Nutztiere

Da stand es, brutal aber deutlich: "126,7" Was als Frequenz für einen Radiosender vielleicht vollkommen legitim war, hatte auf der Waage gar nichts zu suchen. Herr Gerstheimer wunderte sich sogar sehr, dass der Anzeigebereich überhaupt so weit ging. Die Entscheidung , ob er nun erst an sich oder an der Waage zweifeln sollte, fiel ihm schwer. Er hatte zu letzt schon einen etwas gesetzteren Lebenswandel und die ganzen Leckereien vom Adventsteller aber "126,7"?

"Duuuuuhu, Papa?" Gerstheimers Sohn, Eike stand im Türrahmen des Badezimmers und beobachtete seinen Vater ganz genau, der inzwischen angefangen hatte sorgsamst vor dem Spiegel seinen Bauchumfang zu prüfen. "Sag mal, Eike, bin ich dicker geworden?", fragte der Vater in der Hoffnung einen neutralen Beobachter gefunden zu haben. "Ich weiß nicht, Papa, was sagt denn die Waage?", gab der Junge zurück und sein Vater verzog vieldeutig das Gesicht. "Duuuuhuuu, Papa?", setzte der Junge erneut an und der Vater schaltete aus seinem Gesundheits- in seinen Lieblings-, den Vatermodus um: "Was möchtest du, Eike? Musst du auf die Toilette?" Vehementes Kopfschütteln. "Ich hab' 'ne Frage." Gespannt und von seinem scheinbaren Gewicht gezwungen, setzte sich Herr Gerstheimer erst mal auf die geschlossene Toilette. "Was möchtest du denn wissen?" - "Was ist ein Nutztier?"
Jedes mal fiel Herrn Gerstheimer ein Stein vom Herzen, wenn sein Sohn keine all zu komplexen Fragen stellte. Ein Mal hatte Eike gefragt, wie Atomkraftwerke funktionierten und war vollkommen verwirrt und überfordert zurück gelassen worden von seinem Vater, der das ganze Mit-seinen-Kindern-wie-mit-Erwachsenen-Reden zu ernst genommen hatte. Von den technischen Ausführungen und Skizzen verstand der Junge nichts und träumte dann Wochen lang schlecht. Frau Gerstheimer betitelte die Situation damals, sehr ironisch, als atomaren Gau.

"Nutztiere sind Tiere, die dem Menschen bei seiner Arbeit helfen und ihm daher etwas nützen. Pferde zum Beispiel haben früher oft Wagen und Kutschen gezogen." Eike nickt wissend: "Das kenne ich von meinem Lego. Aber gibt es auch Nutztieren, die den Menschen zu hause helfen?" Herr Gerstheimer fragte sich spontan, warum Menschen eigentlich oft zum Nachdenken an ihr Kinn griffen und hoch schauten, antwortete dann aber im Rahmen seiner Möglichkeiten: "Ich weiß nicht. Bestimmt. Hunde zum Beispiel bewachen ja oft ihr zu hause. Das ist möglicherweise auch ganz nützlich." Herr Gerstheimer hatte seinen Gedanken noch nicht ganz beendet, da war Eike schon mit einem "Okay. Danke. Tschüss." aus dem Bad verschwunden, in dem jetzt wieder nur noch 126,7 geballte mögliche Kilo Herr Gerstheimer saßen.
"All der Sport - Das kann nicht sein.", murmelte er zu sich selbst und beschloss, seine Frau zu dem Thema zu befragen. Die saß gerade im Arbeitszimmer und bereitete Pakete für den Versand mit Ebay vor. Kartons für die DVD-Pakete hatte sie schon bereit liegen, die Lieferungen auch schon alle zu sortiert, jetzt wollte sie nur noch alles mit einer kleinen Lebensmittelwaage durchwiegen, damit sie auf der Post keine Überraschung erlebte. "Duuuhuuu, Schatz?", begann Herr Gerstheimer es aus dem Türrahmen zu seiner Frau, die hörte, aber fokussiert auf ihre Arbeit war. "Bin ich fett?" Überrascht schaute Frau Gerstheimer ihren Mann an, der das bißchen Bauch, dass er hatte anhob. "Wie kommst du denn darauf?", fragte sie, legte dabei das erste Paket auf ihre Waage.
"Unsere Waage im Bad sagt, ich würde 126,7 Kilo wiegen!" - "Beide Beine oder nur eines?", witzelte sie, fixierte die Anzeige vor sich und zog dann die Augenbraue hoch. Herr Gerstheimer, der gerade wenig Verstädnis hatte,machte einige Schritte ins Zimmer und bohrte verunsichert nochmal nach: "Schatz, mal ohne Scherz, habe ich mich so gehen lassen?" Die Frau prüfte ihren Mann mit sicherem Blick und versicherte: "Ein wenig, ja, aber wenn du 126 Kilo wiegen würdest, dann wäre heute früh deine Kleidung explodiert. Ist das passiert?" Herr Gerstheimer schüttelte den Kopf erst, nachdem er seine Hemd und die Hose auf Risse geprüft hatte.
"Aber hier stimmt trotzdem was nicht.", deutete Frau Gerstheimer, "meine Waage hier sagt, dass diese DVD 5 Kilo wiegt." Noch bevor Herr Gerstheimer reagieren konnte, stürmte Eike ins Zimmer.
"Ich habe die Lösung! Ich habe die Lösung!" Das Elternpaar schaute irritiert, warfen sich einen zweifelnden Blick zu und sprachen in einer Stimme: "Dann lass mal hören."
"Mama hat gesagt, wenn ich mich gut drum kümmere, dann kann ich ein Haustier haben. Und Papa hat gesagt, vielleicht sogar schon zu Weihnachten." Der Junge sprach die Wahrheit, also blieb, trotz absolutem Unverständnis, nur Nicken als Gesprächsanteil der Eltern. "Wir könnten ein Nutztier für mich kaufen, dass sich um die Waagen kümmert. Und auch im die Zollstöcke. Und die Uhren."
Herr Gerstheimer hatte vermutlich dieses Jahr seine Augenbraue noch nicht so hoch gezogen, witterte aber, dass hier irgendwas im Busch war. Er prüfte seine Armbanduhr und im Vergleich dazu die Wanduhr. Letztere ging hoffnungslos falsch.
"Eike." Eltern neigen zu ausufernden rhetorischen Pausen bevor sie eine wichtige Frage stellen: "Hast du die Waagen und die Uhren verstellt?" - "Und die Zollstöcke.", schob Herr Gerstheimer mit einem fast anerkennenden Ton hinter her. Eike, der sich nun ertappt fühlte, wusste, dass Lügen nie lohnt: "Ja. Aber...." Kinder machen rhetorische Pausen, wenn sie glauben, dass sie so wie so unterbrochen würden, "...nur um euch klar zu machen wie nützlich mein Haustier sein könnte. Seid ihr böse?"
Herr und Frau Gerstheimer schmunzelten erst, dann nahmen sie ihren Sohn, der schon ein paar Tränen im Rand der Augen formte, in den Arm. "Nein, ist doch nichts schlimmes passiert." Doch Frau Gerstheimer wollte es genauer wissen: "Aber sag mal, welches Tier sollte uns denn bei den falschen Waagen und Uhren....und Zollstöcken helfen können?"
Eike lächelte triumphierend:
"Ein Eich-Hörnchen!"

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