Lutz

Manche Menschen finden es ja schon ausreichend familiär oder anstregend ein Elternpaar zu haben. Zwei Personen, die von klein auf für einen da sind, das ist ja erstmal ein ziemlich guter Betreuungsschlüssel. In Kitas steht es glaube ich gerade Zehn zu Eins für die Kinder und mensch muss kein Pädagogik-Profi sein, um zu erkennen, dass das vielleicht nicht ganz so optimal ist.

In meinem Leben hat sich dieser Betreuungsschlüssel auch irgendwann verschoben, aber anstatt der etwas prominenteren Verabschiedung von einem Elternteil, haben sich eher noch weitere Teilzeiteltern gefunden, die familiären Aufgaben nachgekommen sind, die ich damals vielleicht nicht mal wirklich als vernachlässigt angesehen habe, aber die offensichtlich übernommen werden mussten. Und ganz vorne dabei ein Mann, der vielleicht wesentlich mehr Einfluss auf mich genommen hat, als er weiß:
Lutz.


Das mag jetzt den falschen Eindruck vermitteln, aber in der Zeit, als ich gerade mit der Pickelweihe die Initiation in dieses Teenageralter bekam, musste ich Abends manchmal schon in die Kneipe gehen, um meine Eltern sehen zu können.
Wie gesagt, nicht von Klischees leiten lassen: Meine Eltern haben jetzt keine wilde Alkoholismus-Geschichte laufen gehabt, die sind nur einfach gerne Darten gegangen und da sind die geheiligten Spielgründe nunmal Kneipen.

Achso und bevor da ein falscher Eindruck von mir entsteht: Ich bin da auch nicht immer nur hingegangen, wenn ich meine Erziehungsberechtigten unbedingt sehen wollte, sondern bevorzugt, wenn es Freitag Abend in der Woche war, aber Monatsende in meiner Geldbörse. Teil eines eigentlich von mir nicht so gedachten, aber hochfunktionalem System. Dazu aber später.

Hier wurde nicht Liga gespielt, sondern nur freundschaftlich in der Clique. Damit das Ganze aber nicht Gefahr läuft nur Spaß zu machen, wurde ums Bezahlen der nächste Runde gespielt. Was irgendwie fair war und wurde, da bis auf wenige Ausnahmen Darts hier auch eher ein Glücksspiel war. Egal. Wir sind ja heute in meiner Erinnerung hier, um jemanden zu treffen.

Lutz war das Kuckkucksei in diesem Nest. Wie ich immer fand, auch sehr offensichtlich. Wer in einer Ruhrgebietskneipe mit mittlerem Anspruch in Anzug mit Weste und Taschenuhr saß, Weinbrand mit ebenfalls mindestens mittlerem Anspruch trank, wo andere einen Korn wegschütteten, der war nicht von hier. Also nicht aus meiner persönlichen Lebensrealität. Ich kannte solche Menschen als die Mütter und Väter meiner Mitschüler am Gymnasium.

Ich war politischinteressiert - Womit ich daheim niemandem kommen brauchte - Ich konnte mit meiner Klugscheißerei Intellekt und Wissen vortäuschen und da ich in meiner Clique auch das Kuckkucksei war, schien es mir wohl nur plausibel, mich mit einem Menschen in ähnlicher Sozialposition bekannt zu machen.

Lutz und ich waren uns in einer Sache schnell einig: Wir verstanden uns. Er brauchte in der Kneipe nämlich auch niemandem mit Politik kommen und komischerweise mussten alle immer kurz aufs Klo, wenn er ins referieren kam. Das klingt nobler als Klugscheißen und ich sah es auch so. Wenn Lutz von Jazz redete, Theater, Literatur, Wirtschaft, dann war das voll mein Ding. Auch wenn ich von nichts davon eine Ahnung hatte.

Es war ironisch, denn Lutz stand für vieles, was ich nicht werden wollte, war er doch gutdekorierter Zahlenjongleur im internationalen Großkapitalismus und doch wurde er zu meinem Vorbild. Ich habe ihn als begnadeten Rhetoriker kennengelernt, aber auch als Menschen, der stolz auf seine Interessen sein konnte, auch wenn sie ihn oftmals aus seinem Freundeskreis absonderten. Er war eigentlich ein komischer Kauz, aber eben auch ein Original. Und für mich war er lange Zeit ein Lehrer, ein Förderer und Vertrauter, auch wenn ich nie wirklich über meine Probleme mit ihm sprach.

Aber wenn jemand auf mich stolz sein sollte, was bei meinen Eltern nur zu leicht gelang, meldete ich mich auch oft genug bei Lutz, um mir Bestätigung von jemandem geben zu lassen, denn ich in meiner halbstarken Selbstüberschätzung als ebenwürtig empfand. Ich war Teenie, verzeiht es mir.

Ich glaube heute oft, dass Lutz auch wirklich aufrichtig stolz auf mich war, wenn er es sagt und wirklich aufrichtig wütend, als ich mich immer wieder gegen eine gradlinige Karriere entschied oder entschieden sah. Ich glaube oft, dass Lutz, der leider mit seiner Frau keine Kinder bekommen konnte, mich schon als sein Sohn sah, wenn auch ich ihn nie anfing als meinen Vater zu sehen. Aber ich bin mir sicher, er wäre ein guter, liebevoller, stocksteif konservativer Vater geworden. Und irgendwie ist er das ja auch.

Jazz höre ich immer noch nicht, aber was er mir als Buch empfohlen hat, habe ich immer auch gelesen und auch ich schäme mich nicht, wenn ich klugscheiße, weil "alles besser klingt, wenn es einen ordentlichen rhetorischen Schwung hat". Mein lieber Lutz, inzwischen lebe ich für den "rhetorischen Schwung" und das verdanke ich auch dir. Vielleicht nicht als ein Vater, aber sicher als so etwas, was ich Familie nennen würde.



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