Bryan Lee O'Malley - Seconds

Wer Bryan Lee O'Malley auf Twitter folgt (@Radiomaru) könnte guten Gewissens den Eindruck gewinnen, dass der Typ gelinde gesagt ziemlich einen an der Marmel hat. Und ich meine jetzt nicht dieses "Boah, der ist voll crazy-yolo-swag-swag", sondern schlichtweg, dass er ziemlich kaputt ist. Was da an "Humor" durchläuft, bringt mich oft an meine Grenzen. Genauer an die zum guten Geschmack und der Vernunft.

Aber ich werde den Eindruck dann nicht los, dass dieser Twitter-O'Malley gar nicht mal so nah dran ist an dem Autoren-O'Malley, sondern eher eine ausgedachte Persönlichkeit oder eine Art Mülleimer für all den Kram, der ihm im Kopf nur im Weg ist. Es kann ja auch gar nicht sein, dass er so ein wirsches Kraut ist. Immerhin sprechen wir hier vom Autoren und Zeichner der Scott Pilgrim Comics. Und an denen war einfach alles gut. Wirklich. Alles!

Selbst die Filmadaption der Comics war super. Und das obwohl der Film erschien, eh die Comicreihe überhaupt abgeschlossen war. Und der Soundtrack zum Film war auch klasse. Und das Videospiel zum Comic und zum Film war auch klasse. Und der Soundtrack zu dem Videospiel war auch klasse. Da stimmt einfach alles und eine Kombination aus Bibel und Kompendium für Nerds war entstanden. So sagen zumindest die Nerds (meines Vertrauens).

Seconds, seine dritte veröffentlichte Geschichte, schert sich nicht besonders um diese Nerds. Es ist keine Geschichte für die offensichtlichen Popkultur-Videospiel-Ich-habe-die-Zelda-Feenbrunnen-Musik-Im-Film-Als-Michael-Cera-Pinkelt-Sofort-Erkannt-Nerds. Aber doch irgendwie für Nerds. Und bevor ich das Wort zum sechsten Mal verwende, ich verstehe als Nerd keinen "sozial isolierten Computerfan" (vgl. Fremdwörterduden), sondern einen Menschen der besonderes uneingeschränktes Interesse in einem Bereich hat in dem er/sie auch das Hobby sieht. Und deshalb ist Seconds ein Buch für Nerds. Lebens-Nerds.

Und Esoterik-Nerds.

Katie ist Chefköchin im Seconds. Und sie ist verdammt gut. Die beste Köchin der Stadt. Ihr Essen schmeckt fantastisch, das Seconds ist das Lokal in der Region, alles andere stinkt daneben ab. Und das liegt nur an ihren Kochkünsten.
Denn menschlich ist Katie alles andere als verdammt gut. Sie macht ihren anzulernenden Nachfolger fertig, vertraut den Kellnern nicht und hat auch sonst so einige offene Baustellen.
Zum Beispiel ihr eigenes Restaurant, welches sie entgegen jeder Vernunft im schlechteren Teil der Stadt aufmachen will, nur weil sie mit Seconds seitdem sie es eröffnet hat nicht mehr glücklich ist. Ihre alten Freunde sind weiter gezogen, die neuen Kids im Laden sind ihr zu cool und überhaupt fühlt es sich nicht mehr so an, als würde das alles noch ihr gehören. Und das ist wichtig für Katie, den Kontrolle ist ihre größte Leidenschaft.
Und die bleibt oft unerfüllt, denn sie hat ihre Gefühle für ihren Exfreund nicht im Griff, die Baustelle fürs neue Restaurant läuft nicht und auch so mancher anderer Kram passt nicht so gut zusammen.

An diesem Tag gipfelt dann aber alles in einer Katastrophe, als das Mädchen, dessen Namen sich Katie als schlechter Boss nicht merkt, plötzlich mit von Fett verbrühten Armen in der Küche steht. In all den Jahren gab es im Seconds keinen Unfall. Katie übernimmt selbst die Verantwortung und bringt Hazel ins Krankenhaus, sucht aber angestrengt die Schuld bei jemandem anderen. Ein schrecklicher Tag geht zu Ende und Katie fühlt sich hilflos.

Katie's Ex auf dem Buchcover.
Ganz zu Ende ist der Tag aber nicht. Denn im Schlaf schreckt Katie auf. Irgendjemand war in ihrem Zimmer. Auf der Kommode. In einer Schublade der Kommode - Die schon da war, als Katie hier eingezogen ist - fehlen ihre Socken. Schocker! Nein. Der Schocker ist, dass an der selben Stelle etwas anderes ist.
Ein Pilz, ein Notizblock, eine Anleitung:
"Eine zweite Chance erwartet dich.
1. Schreib deinen Fehler auf
2. Nehme einen Pilz zu dir
3. Geh schlafen
4. Erwache erneuert"
Und Katie folgt der Anleitung.

Am nächsten Morgen treiben Katies Schuldgefühle sie zum Haus von Hazel, um zu schauen, wie es ihr geht. Und es geht ihr gut. Denn sie hat keine Verbrühungen. Niemand außer Katie erinnert sich an diesen Vorfall.
Nach einer kurzen Phase des Zweifels, erkennt Katie plötzlich die Möglichkeiten ihres neuen Notizblocks.

Schnitt.
Was würdest du rückgängig machen, wenn du die Chance hättest deine Fehler zu beheben? Mir fällt da so einiges ein, denn diese Frage stelle ich mir ständig. Ich würde mein Studium beenden. Vielleicht wäre ich in einem meiner alten Jobs geblieben. Aber dann hätte ich meine Freundin nie kennen gelernt. Ich hätte vermutlich ins Ausland gemusst. Eine heute wichtige Menschen hätte ich nie getroffen.
Seconds diskutiert das Verhältnis von Ursache und Wirkung und zeigt in einem Abenteuer mit Hausgeistern und anderen Kreaturen der Fantastik und Esoterik, was Zweifel und Ängste mit uns machen können, aber auch, warum unser Wunsch unsere Vergangenheit manchmal ändern zu können, vielleicht gar nichts ändern würde.

Kann dieses Buch Scott Pilgrim qualitativ erreichen? Ja.
Wenn ich mir Rezensionen zu Pilgrim durchlese, steht da immer nur was von den Anspielungen und der ganzen Popkultur die darin steckt. Auch in meiner uralten Rezension zu den ersten drei Bänden. Was da fast nie steht, ist worum es in Scott Pilgrim wirklich geht. Es geht nicht um einen Jungen, der um seine Liebe kämpft. Es geht darum, dass wir Menschen oft in einen Vergleich mit den vorherigen Partnern unserer Liebe gehen und meinen diesen gewinnen zu müssen. Und das müssen wir auch. Wir dürfen nicht die gleichen Fehler machen wie die gescheiterten zuvor und wenn doch, dann müssen wir daraus lernen.
In Seconds wird die Geschichte einer jungen Erwachsenen erzählt, die ein Restaurant hat und ein neues bauen will. Es geht aber um einen Menschen, der im Älterwerden Zweifel bekommt, ob er sein Leben bisher ausgereizt hat, der die Kontrolle über alles haben will, aber vielleicht gar nicht halten kann. Es geht um dich. Mich. In jedem Fall um uns Menschen und eine ganz natürliche Angst, unsere kostbare Zeit nicht richtig zu nutzen.

Vielleicht wirkt O'Malley auf Twitter wie ein Bekloppter, aber seine Bücher und Geschichten sind nah dran am Leben der Generationen, die jetzt gerade ängstlich über die Welt wanken, auf der Suche nach Antworten auf knifflige Fragen des Lebens. Ich habe Seconds in einer Sitzung verschlungen und seitdem noch zweimal gelesen. Optisch bleibt O'Malley beim selben Stil wie bei Scott Pilgrim und auch in der Art die Geschichte zu erzählen finden sich Parallelen. Wer eine Reise in den Fanservice und die Anspielungen sucht, wird enttäuscht sein, wer sich selbst auch oft wünscht die Vergangenheit ändern zu können, wir hier Antworten finden auf unausgesprochene Fragen.

Seconds bekommt von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung und wird einen ganz besonderen Platz in meinem Bücherschrank/meinen Gedanken einnehmen.

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