Wenn wir schon belogen werden


"Ach. Guten Tag Herr Rütter! Mit ihnen hatte ich jetzt so gar nicht gerechnet. Jetzt bin ich ja gar nicht vorbereitet. Wollen sie vielleicht reinkommen? Ja, stören sie sich nicht an dem Hund. Der ist immer etwas aufgeregt wenn Besuch kommt. Ja, sie hatten ja gesagt, dass sie nochmal einen Überraschungsbesuch machen. Aber heute? Da war ich nicht drauf vorbereitet."
So quittiert es brav die Frau und hält dem Hundeprofi die Tür auf. Dieser tritt sofort ein, würdigt die Frau kaum eines Blickes und schaut sich direkt den Hund an, der sich wie ein Kreisel am Boden dreht. Er gibt der Frau auch nicht die Hand – Ist halt ein Hundeprofi und kein Menschenprofi – und läuft unbeirrt zum Wohnzimmer durch.

Meine Damen und Herren, die Regierung warnt seit einigen Jahren vor Schläfern und anderen Terroristen, die im Verborgenen operieren. Lange Zeit haben wir nach langbärtigen Turbanträgern gesucht, aber die wahre Gefahr liegt da, wo wir am wenigsten damit rechnen. Es ist nicht die Bedrohung durch religiösmotivierte Attentäter und auch nicht durch gefährliche Viren in Briefumschlägen. Weder anwachsendradikalisierte Gewalt von Rechts oder Links sind die Bedrohung.
Seit den 2000er Jahren werden in ganz Deutschland offensichtlich systematisch in Gebäuden Kamerateams eingemauert.

"Ach. Guten Tag Herr Rütter! Mit ihnen hatte ich jetzt so gar nicht gerechnet?"
Warum hast du denn dann ein verdammtes Mikrofon an deinem Shirt hängen und einen dieser Funkempfänger am Arsch heften? Trägst du das immer so? Nein. Und dann hälst du die Tür so offen, dass der Rütter, du und der Hund zufälligerweise alle perfekt zu sehen sind.
Wenn ich ja keinen Besuch erwarte, dann guck ich durch den Türspion und bin so leise wie möglich, damit ich mich im Zweifelsfall tod stellen kann, falls die GEZ oder meine Mutter vor der Tür stehen.
Aber du hast vorsichtshalber schon mal ein Kamerateam angeworben, die zwei Jahre lang da bei jedem Türklingeln aufgesprungen sind, bis der Rütter auch endlich bei dir auftaucht. Klar hättest du auch zur Hundeschule gehen können und das Problem von deinem Tier vorher lösen können, aber dann hätte ja keiner deine tolle Wohnung gesehen.
So läuft es natürlich nicht. Der Rütter rückt mit seinem Kamerateam an, schickt einen vorher rein, einer bleibt bei ihm, damit in einer Einstellung möglichst viel Material gesammelt werden kann und dann dreht sich der Hund da wie auf Droge und der Rütter sagt dir: "Klar, das Tier ist total unentspannt, WEIL DIE KLINGEL LÄUTET!" Da rennen drei bis fünf Fremde durch die Wohnung, haben Kabel dabei, Geräte, am besten noch Lichtaufbauten, aber der Rütter – Der alte Profi – erkennt klar: "Es liegt doch am Klingeln." Ja sicher, in der Zeit in der die rein und raus laufen, klingelt es ja bestimmt an die Zehn mal. Und das auch nur wenn es gut läuft. Im Fernsehen verhaspelt sich dann nie jemand oder sagt etwas, was er wieder zurück nimmt, weil die das vorher aussortieren und wenn der Rütter dann vierzig Mal klingeln musste, weil er leider immer wieder lachen musste – Über deine Wohnung – dann ist auf jeden Fall das Klingeln schuld.

Wenn wir doch bitte schon belogen werden, dann sollte es wenigstens gut gemacht sein.

Wie beim Wrestling. Spätestens wenn diese Muskelpakete, die vor lauter Bizeps selber keine Gabel mehr zum Mund führen können, Stirn an Stirn vor einander stehen, weiß jeder, dass die ganze Sache gestellt ist. Aber wenn dann einer von den Beiden aus vier Meter Höhe von einer brennenden Leiter, auf den anderen Wrestler, der außerhalb des brennenden Rings auf einem brennenden Tisch liegt springt, der aber ausweicht, alle Feuer mit seinem herumwirbelnden Schweiß löscht und den Sprung so kontert, dass der erste nachher wieder quasi oben auf der Leiter steht, dann ist das zwar immer noch höchstgradig unglaubwürdig, aber doch wenigstens spektakulär genug, dass wir nicht böse sind.

So fortschrittlich wie das amerikanische Wrestling, ist das deutsche Fernsehen leider noch nicht.
Tatort 1:
Das perfekte Dinner. Das Format ist bekannt, fremde Menschen bekochen sich gegenseitig und am Ende gewinnt die Person, über die sich die anderen am wenigsten getraut haben her zu ziehen. Dabei wird, wie jeder normale Mensch es machen würde, wenn er Besuch empfängt, Mittags ein bißchen alles angekocht, sich dann umgezogen und dann kommen – auch immer total überraschend – die anderen Gäste.
Das klingt so weit total harmlos, schön und viel kann da doch nicht schief gehen. Aber dann kam diese eine schicksalshafte Folge – Also jetzt nicht lebensverändert, aber belastend für den Realitätsanspruch – in der einer der Hobbyköche die ganze Zeit die Rollläden – Hier wäre ein billiger Rolladenwitz möglich gewesen – geschlossen hat. Er wohnte an einem wunderschönen Weinberg am Mittelrhein, warum, wenn es nicht das klassische Fenster zur Garage ist, hat man die Dinger also immer zu?
Weil der Mann ein Zeitreisender ist und nicht enttarnt werden darf.
Während er nämlich laut Backofenuhr die Mahlzeiten um 13 Uhr vorbereitet, serviert er die starkschnapsigen Vorgetränke laut Wohnzimmeruhr um 19 Uhr. Dann verweist er seine Gäste ins Esszimmer, in dem es dann – Uhr über der Tür sei dank- 19:30 ist. Ein dekadentes Haus, in dem von Zimmer zu Zimmer mit der S-Bahn gefahren werden muss, da die langen Wege anders nicht zu ertragen sind. Doch dann, als er den ersten Gang servieren möchte, da passiert die große Magie: Er geht in die Küche, es ist 14 Uhr auf der Backofenuhr, er quittiert, dass die anderen alle ganz schön hungrig aussahen, garniert sorgfältig mehrere Minuten auf den Tellern und geht zurück ins Esszimmer in dem es jetzt 19:32 ist. Er ist also in einem Gang fünf Stunden zurück gesprungen, dann wieder vor, nur um den Vorspeisengang zu holen.

Das wäre keine Sendung für mich. Mich Mittags immer wieder umziehen zu müssen, nur um den Anschein zu waren, Nein danke.

Tatort 2:
Egal ob es "Mein Revier", "Toto&Harry","Die Trovatos" oder andere Formate sind, ich möchte kein Polizist in Deutschland sein. Laut einem Gerichtsurteil von 2009 ist es ja so, dass "Waldmeister" schon als Beleidigung gilt, in einer allgemeinen Personenkontrolle sogar als Eskalation und der Polizist daraufhin eine Person durchaus wegen Beleidigung verwarnen darf, ja sogar "stilllegen" dürfte. Stillegen war in diesem Gerichtsurteil das romantische Wort für das, was zum Beispiel auch Schalke und Dortmund Hooligans machen, wenn sie sich im freien Feld begegnen. Sie legen sich still. Nicht jeder sich selbst, sondern das jeweilige gegenüber.

Es könnte also der Eindruck entstehen, dass es durchaus berechtigt wäre, einem Polizisten mit Respekt oder wenigstens etwas Angst zu begegnen.
"Hör mir mal zu, du Pappnase, der hat mir in mein Auto reingefahren und dann habe ich dem aufs Maul gehauen, weil das mein gutes Recht ist, das weiß ich." So der O-Ton einer Person in einer solchen Sendung zu einem Polizisten.
Wer hat eine Idee, was der Polizist darauf hin gesagt hat?

Nichts hat er gesagt. Denn wie es auch in echt ist, durfte sich jetzt erstmal der andere zu Wort melden, bis dann endlich die Fäuste flogen. Damit die ganze Situation jetzt aber nicht an Authentizität einbüßt, kam ein plötzlicher Schnitt und während wir im Hintergrund sehen, wie sich die beiden Streitparteien gegenseitig entzahnen, fabuliert einer der Polizisten in die Kamera, was in so einer Situation denn total wichtig wäre.
Nicht umdrehen und einen Einzelkommentar abgeben zum Beispiel. Das wäre eine feine Sache.

Tatort 3:
Wusstet ihr, dass der Rütter zwischendurch manchmal einfach aus dem Gespräch mit den Hundebesitztern ohne Handschlag raus geht, einen Weg entlang läuft und über die Situation der Tieres sinniert, dann in sein Auto steigt und davon fährt.
So sehr ich dieses romantische "Der Cowboy reitet weiter"-Bild mag, wie seltsam wäre es, mal vorrausgesetzt was wir da sehen ist echt, wenn jemand aus dem Gespräch mit euch einfach weggeht , einen Monolog hält und euch stehen lässt.
Wieviele Hundebesitzer stehen jedes Jahr planlos in der Siedlung rum, weil ihnen keiner gesagt hat, dass der Dreh beendet ist. "Hallo? Herr Rütter? Soll ich ihn nochmal bei Fuss laufen lassen?"

Eine Gruppe Mathematikstudenten aus Bayern hat mal errechnnet, wieviele "neue Gesichter" so jedes Jahr durch die deutsche Fernsehlandschaft gejagt werden. Casting-Shows, Doku-Soaps, Scripted Reality, Unscripted Fiction und was es nicht alles gibt. Dagegen haben sie gerechnet, wieviele Kinder in Deutschland jedes Jahr geboren werden und zuwandern.
Bis zum November 2016 werden alle bis dahin volljährigen Erwachsenen eine Sprechrolle in einer deutschen Fernsehsendung gehabt haben.

Das deutsche Fernsehen ist nicht so spektakulär wie das amerikanische Wrestling, aber dafür viel cleverer und subtiler. Denn manche hier werden jetzt sagen: "Ich mach doch niemals bei so einem Scheiß mit!", aber dann klingelt es an der Tür, aus eurem Badezimmer kommt überraschend ein eingemauertes Kamerateam und ihr steht da und seid plötzlich ganz unentspannt. Aber ich kann euch beruhigen, das liegt nicht am Fernsehen, sondern daran das die Klingel läutet.

Kommentare

  1. Anonym21.10.14

    "Wenn ich ja keinen Besuch erwarte, dann guck ich durch den Türspion und bin so leise wie möglich, damit ich mich im Zweifelsfall tod stellen kann, falls die GEZ oder meine Mutter vor der Tür stehen." :D

    Sehr schön! Ich muss ja gestehen ich stehe auf den Trash... aber ich bin mir zu jeder Zeit bewusst, dass es Trash ist... Aber.. Trovatos? ^^

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    1. Das war ein Übertragungsfehler. Dies ist ein Bühnentext der für "Angry Words" entstanden ist und der Moderator dort ist der Tommy, der auch bei der Weststadtstory moderiert. Und #TrueStory: Er hat mal bei den Trovatos mitgespielt.

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  2. Ja es ist gruselig. Und viele halten dies für die Realität. Gott sei Dank kenne ich von solchen Leuten nicht viele.
    Ich hatte tatsächlich einige in meiner Freundesliste die "Berlin Tag & Nacht" für real hielten und mit den Personen auf Facebook kommuniziert haben als seien es echte Personen. Wie gesagt...ich HATTE sie in meiner Liste.

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    1. Die Fernsehmacher bemühen sich auch sehr, das Schauspiel realistisch wirken zu lassen. Gerade in Verbindung mit den Facebookseiten der "Figuren" solcher Serien wird es noch absurder. Wenn dort für die Folge ein Foto als Teaser platziert wird, stellen sich auch oft zu wenige die Frage, wer denn jetzt eigentlich gerade den Auslöser gedrückt hat.

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  3. Da kann man sich doch schonmal die Frage stellen, warum sowas konsumiert wird. Liegt es daran, dass nur das als Angebot da ist?

    "sich gegenseitig entzahnen" ist eine wundervolle Formulierung!

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    1. Ich glaube inzwischen, dass du im Fernsehen zeigen kannst was du willst, weil du für alles eine Zielgruppe findest. Die Quoten sinken ja dank Internet überall gleichmäßig. Ob die fernsehähnlichen Formate dort besser funktionieren sei mal dahin gestellt, aber sie sind in jedem Fall anders.

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  4. Kleines Update:
    Ein Überbleibsel aus der Bühnenversion des Textes wurde entfernt.

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  5. Ich habe Lügen-Tv an (denn von 'sehen' kann da keine rede sein) wenn ich mich bei mäßigem Licht nächtens dem Hunger des Aliens widme. Wenn es mal etwas Aufmerksamkeit von mir erntet, dann, weil ich mir die 'konstruktion' gern besehe... Hintergründe, herumlaufende Typen-Menschen usw... So ein tolles Zeitparadoxon ist mir aber noch nicht untergekommen. Muss an meiner zu solchen Zeiten eingeschränkten Hirnleistunbg liegen ^^
    Wen ich Muße zum Suchen habe - lande ich aber eher bei einer Star Trek oder Crime Serienwiderholung.

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