Tagebuch: 437

Seit ich das letzte Mal gezählt habe.
Inzwischen sind es sicher noch mehr Bewerbungen die ich verschickt habe, aber 437 war für mich ein Meilenstein. Oder eher eine Sollbruchstelle.
Ich habe auf dem Boden des Arbeitszimmers gekniet, die Tränen brannten sich über meine Wangen und ich habe in jeder Zelle meines Körpers gespürt, was für ein Versager ich bin. Damals 29 Jahre alt, keinen Beruf erlernt, kein Studium beendet, ja nicht mal mehr eingeschrieben und das in einer Welt, die aus Zukunftsangst gebaut ist. Und obwohl ich mir dessen bewußt war und immer gut gerüstet dagegen gestanden habe, fühlte ich mich schlagartig unbewaffnet.

"Ich habe immer gearbeitet!" habe ich mir immer hoch angerechnet. Und es stimmt auch. Bis auf eine Lücke zwischen meiner Schulzeit und meiner Bundeswehrzeit - die meine späte Einberufung zu verschulden hatte – habe ich immer eine Arbeit gehabt. Erst zwei Jahre beim Bund, dann direkt im Anschluss neben dem Studium in einem Getränkemarkt, später dann als Studentische Hilfskraft in einem klinischen Forschungsunternehmen. Dann lief bald schon das Studium nebenher, denn zwischen den Anwesenheitspflichten an Uni und Büro entschied ich mich für die finanzielle Unabhängigkeit, nur um mich nicht und niemals nie zu verschulden.

Schulden waren nämlich die damalige Zukunftsangst, immerhin war ich gebildet genug um zu sehen, was zum Beispiel mit den Menschen in den U.S.A passierte, wenn die Schuldenfalle zu schnappte. Und auch bei meinen Eltern war immer wieder zu spüren, was die diversen Kredite für die diversen überlebensnotwendigen Anschaffungen mit der Lebensqualität machten. Schulden waren der Feind und tatsächlich konnte ich mit Freuden immer feststellen, dass ich genug Geld hatte. Genug Geld, um sogar meine verhältnismäßig kostspieligen Hobbies zu betreiben. Ich habe im Ausgleich dazu auch gelernt sparsam zu sein, aber trotzdem tat mir die Anschaffung einer neuen Spielkonsole selten wirklich weh. Und manche von denen buchen preislich da ein, wofür andere in den Urlaub fahren.

Und trotzdem lag ich da jetzt auf dem Boden des Zimmers, wippte vor und zurück, wie wir Menschen es halt tun, wenn wir verzweifelt sind. Ich hatte immer Geld, ich hatte immer Arbeit, nur gelernt hatte ich es nicht. Die beißende Ironie dahinter überholt mich jeden Tag. Aber Deutschland ist ein Land, in dem du einen Schein brauchst, der dir sagt was du kannst. Und das kann ich auch gut verstehen. Das ist der schlimmste Widerspruch in sich: Ich habe keine Scheine, arbeite trotzdem in den entsprechenden Bereichen und würde mich selber aber eigentlich so auch gar nicht einstellen wollen.

437 Bewerbungen hatte ich verschickt, bevor ich zusammen gebrochen bin. Direkt am nächsten Tag saß ich bei meinem Hausarzt und ließ mich beraten, ob ich nicht in Therapie müsste. Ich war doch defekt! Ich bekam keine Einladungen zu Bewerbungsgesprächen, ich war für alle Stellen nicht geeigne!. Mit 29 zu alt, mit meiner Mathe-Note zu schlecht, mit meinem zerklüfteten Lebenslauf nicht fokussiert genug. "Zwei nicht beendete Studiengänge? Der Typ kann nichts zu Ende bringen. Dann immer ehrenamtlich engagiert? Der will doch überhaupt nicht arbeiten.", hörte ich imaginäre Chefs in meinem Kopf sagen. Und notfalls gibt es halt noch immer jemanden Jüngeren, der sich auch gerade auf die selbe Stelle beworben hat. Der Fehler liegt bei mir.

Ich bin ein ganz schön nutzloses Stück Mensch. Dem System, das ich selber ganz okay finde, falle ich nur zur Last. Was meine Eltern und Großeltern mir vorgelebt haben enttäusche ich und den immerwährenden Anspruch, ich solle es doch mal besser haben als meine Eltern, was ja auch beinhaltet, dass ich es auch besser machen muss als sie, dem werde ich nicht gerecht. Und vor mir selbst, wo ich mir doch immer vormache eigentlich ein ganz aufgeweckter kluger Mensch zu sein, kann ich mir nicht mehr vormachen, dass das alles die Wahrheit ist. Ich schaffe es ja nicht mal in eine Ausbildung.
So brechen die Dinge über mich ein.

Und das Schlimmste ist, dass ich mir vorher sicher und im klaren darüber war, dass ich stark bin. Hätte mich jemand zum Bewerbungsgespräch eingeladen, hätte ich die komplett weggeputzt. Denn ich will arbeiten! Ich will lernen! Und diesen Willen hätte ich so fest in jeden Gesprächsraum gebrannt, dass es auch nach meinem Bewerbungsgespräch im ganzen Raum zu spüren gewesen wäre. Für all diese schwierigen Fragen hätte ich verdammt gute Antworten gehabt. Aber auf dem Papier, auf dem Schein, gibt mir keiner eine Chance.

Inzwischen bin ich in Beratung der Agentur für Arbeit und werde unterstützt im Rahmen eines Projektes wo "Unqualifizierte", die bereits in ihrem gewünschten Job gearbeitet haben, eine Ausbildung über externe Bildungsträger oder Berufsschulen bekommen sollen. Auch hier hatte ich aktuell kein perfektes Glück, aber ich sitze halt auch nicht mehr auf dem Boden meines Arbeitszimmers und heule. Ich liege nachts nicht mehr wach aus Angst, bald meinen Lebensstandard verpfänden zu müssen.

Da ich im Moment immer noch nicht in einer Umschulung untergebracht bin, habe ich hauptsächlich eine Beschäftigung: Arbeiten. Und alles in Dingen, für die ich niemals eine Qualifikation erworben habe. Trotzdem ist mensch sich sicher, dass ich der Richtige für diese Jobs bin. Und ich bin mir auch sicher, dass ich der Richtige für diese Jobs bin. Die Ablehnungen der vielen Bewerbungen nicht auf sich selbst als Mensch zu beziehen ist eine hohe Kunst und ich kann verstehen, dass Menschen daran zerbrechen. Ich habe nur Glück gehabt! Und gute Freunde, die mich Scherbenhaufen wieder zusammen gefegt haben.

Der Hausarzt fand damals nicht, dass ich in Therapie müsste. Denn ich erzählte ihm, dass ich mich offensiv in meine Freundschaften stürzte um nicht komplett ein zu brechen. Und er riet mir, ab zu warten, wie es mir danach geht. Er meinte, dass auch der Schritt zu ihm zu kommen richtig war. Auch mutig, denn es gehen viel zu wenige mit so etwas in die Beratung des Hausarztes. Aber es war nicht nur mutig, sondern auch richtig. Dass ich jetzt auch zur Agentur für Arbeit gegangen bin, war auch richtig. Entgegen allen Erwartungen wollen die einem auch helfen.

Inzwischen geht es mir wieder besser. Die Krise ist kein Dauerzustand geworden. Und das, obwohl sich an meiner Situation gar nicht so maßgeblich verbessert hat. Aber manchmal reicht die Aussicht auf eine Zukunft, um sich nicht von der Gegenwart und Vergangenheit unterkriegen zu lassen. Um aus 437 Zeugnissen fürs subjektive eigene Versagen wieder eine Dokumentation der eigenen Arbeit für die Arbeit zu machen. Ein Leistungsnachweis des eigenen Willens. Um den Prozess des Bewerbens wieder lohnenswert zu machen. Um sich daran zu erinnern, dass mensch eben kein wertloses Stück Humankapital ist.

Kommentare

  1. Ist wohl heute Tag der Geständnisse. Die Aussicht auf Verbesserung der eigenen Situation ist der einzige Aspekt, der eine Gesellschaft davor bewahrt, nicht im Chaos zu versinken und jene, die vermeintlich schuld an der eigenen Lage sind, am nächsten Baum aufzuhängen. Und es ja auch nicht falsch: Von hier und jetzt an kann es immer besser werden. Es muss nicht, es kann aber. Was du beschreibst, verdeutlicht so'n bisschen, was es heißt, in einer Leistungsgesellschaft zu leben. Es glaubt dir keiner, dass du was leisten kannst. Du musst das schon schwarz auf weiß haben. Und ja, auch ich kann das verstehen: Als Chef müsstest du sonst ja jedem glauben, was er dir erzählt. Und das geht natürlich nicht. Aus Sicht des Individuums ist das nicht fair, ganz und gar nicht. Was sagt ein Zeugnis darüber aus, was du kannst, wozu du in der Lage bist? Nichts. Aber wir brauchen diese Kennzahlen, um uns sicher zu fühlen. Das ist, hm, ja, weiß auch nicht. Es ist einfach so. Ich wünsch dir auf jeden Fall, dass du auf langfristige Sicht eine Aufgabe findest, die dir vor allem Spaß macht und natürlich auch einträglich ist.

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    1. Danke. Ich bin glücklicherweise nicht mal ein "Beruf = Berufung"-Typ, ich komme auch gut in Jobs klar, die mich gar nicht mal so sehr erfüllen. Trotzdem wünsche ich mir natürlich auch einen "guten" Job. Ich hoffe nur, der Weg dahin wird einfacher. Auch wenn es gerade schon gut läuft.

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    2. Aber du fühlst dich ja schon zu etwas berufen: Du willst im sozialen Bereich tätig sein, genauer gesagt, als Erzieher. Ich finde das übrigens sehr toll. Das ist ein Beruf mit Sinn, jeden Tag aufs Neue, ganz ohne Business-Bullshit-Bingo. Wie man sich nämlich _dazu_ berufen fühlen kann, werd ich bis ans Ende meiner Tage nicht verstehen, weshalb bei mir dann eben Beruf auch nichts mit Berufung zu tun hat.

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  2. Ich bin immer wieder von deiner Offenherzigkeit beeindruckt und bewundere deine Energie! Bitte mach weiter so

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    1. Ich bin da auch manchmal von beeindruckt. So richtig bewußt bin ich mir dieser Dinge nämlich nicht immer. Aber es ist gut, wenn Freunde wie du mich dann darauf hinweisen. Das hilft auch, es selber zu erkennen und dran zu glauben. Danke sehr!

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