Politik und andere Streicheleinheiten

Habt ihr das Video auch gesehen? Das Video, in dem Angela Merkel im Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ mit Jugendlichen in Rostock spricht und auf Reem trifft. Habt ihr euch auch aufgeregt? Mal wieder so richtig schön empört?

Die Kanzlerin erklärt, warum Reem, obwohl sie gut deutsch spricht, wahrscheinlich nicht in Deutschland bleiben kann. Reem ist zuerst gefasst und beginnt dann zu weinen. Die Kanzlerin bemerkt es. Sie hört auf zu sprechen. Sie geht zu dem Mädchen und versucht es trösten.
Ja, sie macht das nicht besonders geschickt. Ja, auch das Wort Streicheln ist nicht perfekt gewählt.

Die Kanzlerin soll mehr Herz zeigen, sagen viele im Internet und sind schockiert. Unter den Hashtags #merkelstreichelt und #primagemacht offenbaren sie sich. Die gesammelte Gutmenscharmee der Nation.

Und ich beginne mich zu fragen. Ich frage mich, einen Menschen zu trösten ist herzlos?
Ich frage mich, hätte sie lügen sollen? Hätte sie lügen sollen und sagen, ja ok jetzt guckst du so süß, mh nagut überredet. Was hätten dann die anderen Menschen gesagt, die auf die Bearbeitung ihres Antrages warten?

Ich frage mich, was soll sie sagen? "Unsere Gesetze funktionieren so, aber bei dir mach ich eine Ausnahme?" Man kann vom Asylrecht in Deutschland halten was man will, aber Schönreden funktioniert bei Gesetzen nicht, da finde ich ehrlich sein irgendwie besser.
Und na klar: Wir müssen mehr tun. Mehr Geld ausgeben für Menschen in Not, mehr Raum schaffen, mehr Menschen einstellen, damit die Anträge schneller bearbeitet werden können. Denn das Recht auf Asyl, ist ein Menschenrecht. Und das haben wir als Demokratie verdammt nochmal durchzusetzen.

Es läuft so viel schief, aber statt zu sagen, du Merkel du bist herzlos, weil du leider ehrlich sagst, wie es gerade funktioniert, statt es sich so einfach zu machen, kann man es machen wie Pauline. Einfach mal Kuchen backen, Seifenblasen kaufen und zur nächsten Asylbewerberunterkunft gehen und die neuen Nachbarn begrüßen und sie willkommen heißen.

Es gibt so Sachen, die funktionieren und Sachen, die funktionieren nicht. Es wird auf Asylbewerberunterkünfte geschossen, es gibt Brandanschläge, Hassparaden der sogenannten besorgten Bürger. Aber es gibt auch Schulen, die Flüchtlingskinder zum Spielen einladen. Sportvereine, die zusammen mit den Neuen Fußball spielen. Ehrenamtliche, die Deutsch unterrichten oder bei Behördengängen helfen.

Nein, es läuft bei weitem nicht perfekt, wenn Erstanlaufstellen überfüllt sind, wenn Menschen ihr Leben riskieren müssen, um überhaupt herzukommen, wenn Menschen abgeschoben werden, weil sie angeblich nicht so arm dran sind wie andere.

Aber die Politik sitzt doch auch nicht da und dreht Däumchen. Es wird nach Räumen gesucht, die Kommunalpolitiker reden sich die Münder fusselig und planen Standorte. Und dann kommen Bedenken von den Bürgern, wie wenn da eine Unterkunft in Neuss neben dem Schwimmbad gebaut werden soll, da gibt’s dann zu wenig Parkplätze. Zitat: "Schon jetzt kommt man bei schönem Wetter kaum an den kreuz und quer geparkten Autos der Badbesucher vorbei". Oder ein andere Stimme, die die Unterkunft lieber etwas weiter weg vom Schwimmbad hätte. Da hinten bei der Autobahn wäre doch noch Platz.
Und ich frage mich, was genau genau war jetzt nochmal herzlos?

Es läuft ganz und gar nicht perfekt, wenn Erstanlaufstellen überfüllt sind, wenn Menschen ihr Leben riskieren müssen, um überhaupt herzukommen.

Aber ich wundere mich.
Ich wundere mich, dass Merkel herzlos ist, während Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, ein europäischer Ministerpräsident, explizit sagt, er wünsche sich keine weiteren Migranten mehr in Ungarn. Er sagt: "Wir wollen Ungarn haben, so wie es ist." Denn mit Kriegsflüchtlingen aus Syrien setzt man sich der Gefahr von Terroranschlägen aus. Ja. Sicher, ich nehme auch immer meinen Bombengurt mit, wenn ich gezwungen werde meine Heimat zu verlassen und dann wochenlang unterwegs bin.

In Polen leben ungefähr 300 syrische Flüchtlinge. In Deutschland sind es 25.500, in der Türkei sind es 790.000, im Libanon 1,1 Millionen.

Und ich mein ja nur. Richtig gerne mag ich auch den Präsidenten von Tschechien Miloš Zeman. Der wünscht sich keine Muslime in seinem Land und sagt ein gemäßigter Muslim sei "so widersprüchlich wie ein gemäßigter Nazi".

Ist ja auch schon lange her, dass es bei uns so war. Ewigkeiten vorbei. Spricht ja keiner mehr drüber. Jahrzehnte. Jahrhunderte – nein. 70 Jahre. Mehr ist das nicht. Und ich mein ja nur. Nach dem zweiten Weltkrieg waren allein 14Mio deutsche Menschen auf der Flucht. Und weitere 12 Millionen ehemalige KZ Insassen. Und ich mein ja nur, KZ, Bürgerkrieg, Folter, Armut, wer gibt uns das Recht zu werten, zu urteilen, welcher Mensch es nötiger hat?

Ich will nicht Angela Merkel oder die CDU in Schutz nehmen. Bei weitem nicht. Aber ich wundere mich. Ich wundere mich, dass sich so viele Menschen aufregen, wenn Angela Merkel jemanden tröstet, aber dass so wenige mal das Asylbewerberheim nebenan besuchen. Oder die Petition vom syrischen Protestcamp am Dortmunder Bahnhof unterschreiben.

Es ist immer einfach sich aufzuregen, vor allem wenn so ein praktisches 1 Minute 30 Video im Internet kursiert. Aber ich finde halt, wir sollten es uns nicht so einfach machen.


Infos, wie man konkret helfen kann, gibt es hier:

Petition gegen Dublin II unterschreiben: https://www.wir-treten-ein.de/
Ehrenamtlich helfen: http://wie-kann-ich-helfen.info/
Einen Flüchtling aufnehmen: http://www.fluechtlinge-willkommen.de/

Infos über Flüchtlinge im Allgemeinen:
http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52714/fluechtlinge
http://www.unhcr.de/

Infos über Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg:
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56359/nach-dem-2-weltkrieg

Infos über den Bürgerdialog der Bundesregierung (den ich trotz der Werbung für die Regierung prinzipiell gut finde, da miteinander reden immer besser ist als übereinander):
https://www.gut-leben-in-deutschland.de/DE/Ueber/der-dialog-im-ueberblick/_node.html

Das Video in voller Länge:

https://www.gut-leben-in-deutschland.de/SharedDocs/Videos/DE/07-Juli/2015-07-16-dialog-kanzlerin-rostock.html

Der Abschnitt mit Reem:
https://www.gut-leben-in-deutschland.de/SharedDocs/Videos/DE/07-Juli/2015-07-16-dialog-kanzlerin-ausschnitt.html

Kommentare

  1. Ich komme nicht umher, bei jedem "Ich wundere mich" The Who mit Stairway to Heaven anklingen zu hören. Was aber so ein wundervoll trauriges Lied ist, dass es halt auch schon wieder gut passt.

    Hoffentlich machen wir als Gesellschaft mal so langsam unsere Hausaufgaben und helfen denen, welche aus unserem Reichtum heraus nun in ihren Länder vor wenig und Bürgerkrieg stehen. Wie wir es tun ist mir fast schon egal, so lange wir die Menschlichkeit waren.

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    1. In der Poetry Slam Version dieses Textes kommt auch das Zitat von Gysi vor: "Wir leben auf Kosten der Dritten Welt und wundern uns, wenn das Elend anklopft".
      Ich finde das sehr passend. Leider.

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    2. Off Topic: Stairway to Heaven ist von Led Zeppelin :-P

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    3. Damn. Verdreht. Du hast natürlich Recht. Wie peinlich.

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  2. Anonym12.8.15

    Bisher kannte ich Fatima nur auf der Bühne und hatte diesen Text auch schon gehört und gemocht. <3
    Bin gespannt was sie jetzt in deinem Blog noch schreiben wird, Jay.

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  3. Ich finde du stellst für die Innenpolitik die richtigen Fragen. In unserer Gesellschaft sollte sich jeder mal ein wenig mit sich selbst, seiner Geschichte (Stichwort Binnenflüchtlinge nach dem 2. WK) und seinem Platz in Deutschland und Europa auseinander setzen. Aber da wird es bei denen, die am lautesten schreien wohl am Horizont fehlen.

    Meine Meinung nach sollten wir uns in Europa nicht nur auf unsere eigenen Probleme und Herausforderungen durch die Flüchtlingsströme konzentrieren, sondern an die Ursachen gehen. Die Flüchtlinge aus Syrien, dem Libanon oder Eritrea haben sicher alle unterschiedliche Motivationen hier her zu kommen, aber ich glaube nicht, dass die hier bleiben wollen, wenn es in ihrer Heimat wieder lebenswert ist. Da sollten wir ansetzen: das Leben auch dort wieder möglich und erstrebenswert machen.

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