Maus 53

Als ich das erste Mal eine Maus getötet habe, spürte ich wie das Leben aus ihr wich. Ich erinnere mich genau. Ich habe sie am Schwanz hoch gehoben und auf das Gitter gesetzt, tief durchgeatmet, die Pinzette mit der linken Hand hinter ihren Kopf gelegt und gegen das Genick gepresst. Mit der rechten Hand habe ich ihren Schwanz genommen und so lange daran gezogen, bis ich spürte, dass ihr Genick gebrochen war.

Mein Name ist Paul Uffmann und von Beruf töte ich Mäuse. Und ich möchte das hier gar nicht rechtfertigen. Keine Diskussion über das Für und Wider. Keine moralischen Grundsatzfragen und keine Verteidigung.
Ich möchte hier nur meine Geschichte erzählen. Den Zwiespalt zwischen Neugier und Moral. Zwischen dem Wunsch Gutes zu tun und der Destruktivität der Konsequenz. Dürrenmatt.

Meine Freunde nennen mich Uf oder Paul. Als ich ein Kind war wollte ich immer Arzt werden. Ich kann jetzt im Nachhinein gar nicht mehr genau sagen wieso mich dieser Beruf so angezogen hat. Jedenfalls nach dem Abi, als mein Schnitt ein wenig zu schwach war um Medizin zu studieren, entschied ich mich für eine wissenschaftliche Laufbahn. So richtig viele Gedanken, hab ich mir ehrlich gesagt nicht gemacht. In der Schule war ich ziemlich gut in den Naturwissenschaften und mein bester Freund hatte sich bereits eingeschrieben.Wieso also nicht. Aufhören kann man ja sowieso immer.
Nun was dann folgte, waren drei Jahre Tortur. Drei Jahre Grundlagenfächer und Laborpraktika. Drei Jahre, die einen dazu trimmten fokussiert Fakten auswendig zu lernen. Mit Wissenschaft hatte das meistens relativ wenig zu tun. Eher mit Fleiß und Verzicht.

Manchmal kam mir das Ganze vor wie ein Bootcamp für die Wissenschaft. Ich erinnere mich noch sehr gut als mein bester Freund und ich eine Nacht damit verbrachten unsere Protokolle für ein Laborpraktikum fertigzustellen um am nächsten Tag völlig übermüdet im Labor das nächste Experiment durchzuführen, für das dann natürlich wieder ein Protokoll zu schreiben war.  Es gab strikte Deadlines und so manche Aufgaben, die nur dazu gedacht waren unsere Frustrationgrenze und Stressresistenz zu ermitteln.
Wie auch immer, 30 % der ursprünglich eingeschriebenen Studenten trugen nach drei Jahren schließlich den Titel Bachelor of Science. Ich war einer von ihnen.
Nach drei Jahren Bachelor-Studium entschied ich mich für ein Master-Studium. Mit dem Bachelor-Abschluss hatte man quasi keine realistischen Berufschancen, also wurde weiter studiert. Das Master-Studium war weitaus weniger anstrengend. Auch wenn mir die dreijährige Hölle auf Erden viel Kraft geraubt hatte, schaffte ich das Master-Studium, wie die meisten von uns, sogar mit relativ guten Noten.

Nach dem Master-Studium entschied ich mich für drei bis fünf weitere Jahre Promotion. Der große Endgegner. Alles was ich im Bootcamp gelernt hatte, sollte mich hierauf vorbereiten.
Als Doktorand durfte ich mich endlich Wissenschaftler nennen. Auch vorher hat man bei seinen Abschlussarbeiten wissenschaftlich gearbeitet. Da aber nicht in Vollzeit, sondern für drei bzw. sechs Monate. Jetzt war ich also Vollzeitwissenschaftler. Leider ist das Wissenschaftlerleben nicht so spannend wie in Filmen. Meistens tut man sehr lange immer genau dasselbe um entweder festzustellen, dass es einfach nicht funktioniert und man nicht weiß wieso, oder aber es plötzlich funktioniert und man nicht weiß wieso.

Weil ich schon immer Arzt werden wollte, entschied ich mich für ein Promotionsprojekt im Bereich der molekularen Medizin. Ich wollte an Krankheiten und deren Heilung forschen. Ich wollte Menschen helfen, und zwar nachhaltig. Und so verbrachte ich Stunden um Stunden, Monate um Monate im Labor. Ein fensterloser, grauer Bunker neben der Pathologie. Viel Frustration und viel Verzicht. Ganz wie im Bootcamp. Neu war aber die Aussicht, etwas Großes zu schaffen. Menschen ernsthaft zu helfen und daran mitzuarbeiten sehr viel Leid in Zukunft vielleicht sogar verhindern zu können.

Nach vielen Rückschlägen zeigten meine Experimente in der Zellkultur Erfolg. Ich konnte nach medikamentöser Runterregulation des Gens DynC1H1 mit gleichzeitiger Hochregulation von VEGF die Degeneration der Neurone in Kultur verhindern.
Mein Betreuer, Professor Hölzl, war positiv überrascht von meinen schnellen Ergebnissen und bat mich  per E-Mail am nächsten Tag in sein Büro zu kommen.
"Ahhhh, Herr Uffmann, sehr schön, sehr schön. Setzen sie sich. Ja, also ihre Ergebnisse sind äußerst vielversprechend. Darauf können wir aufbauen."; fing er an, "Nun wir sollten jetzt über tierexperimentelle Methoden nachdenken."

Ich schluckte. Ich hatte natürlich schon viel theoretisches über tierexperimentelle Arbeiten gelernt und auch viel von meiner Forschung basierte auf Erkenntnissen aus Tierexperimenten von anderen Forschern. Ich mein, verstehen Sie mich nicht falsch, es wäre naiv gewesen zu glauben, dass ich niemals mit Tieren in Kontakt komme aber so plötzlich war ich nicht darauf vorbereitet.

Mäuse werden getötet, indem man ihnen das Genick bricht. Mit den bloßen Händen. Wenn man es richtig macht, sind die Mäuse innerhalb von wenigen Sekunden tot. Macht man es falsch, schnappen sie nach Luft und versuchen mit gelähmten Gliedmassen gegen den unvermeidlichen Tod zu kämpfen.

Maus 53 war gerade 20 Tage alt als ihre Zeit gekommen war. Jeden Tag seit ihrer Geburt habe ich sie besucht. Jeden Tag ging ich runter zu den Tierställen und hob sie aus ihrem Käfig. Jeden Tag überprüfte ihren Vitalstatus und ihr Gewicht. Jeden Tag notierte ich alles feinsäuberlich in einem kleinen Buch. Maus 53 war eine kluge Maus. Sie merkte schnell, dass die täglichen Kontrollen weder schmerzhaft noch unangenehm waren und kooperierte sofort.

Maus 53; postnatal 20 Tage; Vitalstatus gut, keine sichtbaren Verletzungen; Herzschlag 300 BPM;Gewicht: 21,7 g

Wie bereits erwähnt, Maus 53 war eine kluge Maus. Sie merkte sofort, dass an Tag 20 etwas anders war. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich von einer Maus gebissen. Sie biss durch den Handschuh in meinen Finger. Es fing an zu bluten.
Ich hob Maus 53 aus ihrem Käfig und setzte sie aufs Gitter. Ich atmete tief ein, meine Hände zitterten und mein Magen schnürte sich zu.  Mit meiner linken Hand presste ich eine Pinzette gegen ihr Genick. Meine Hände zitterten immer noch. Maus 53 fing an laut zu quieken. Meine rechte Hand fasste ihren Schwanz. Ich schloss die Augen und zog so fest es mir möglich war an ihrem Schwanz. Meine linke Hand spürte wie ihr Rückenmark durchtrennt wurde.  Eine Sekunde später war Maus 53 tot. Sie lag leblos auf dem Gitter.

Paul Uffmann; postnatal 8395 Tage, Vitalstatus: verändert; frisches Blut an der linken Hand, Herkunft unbekannt; Herzschlag leicht beschleunigt auf 100 BPM, Gewicht unbekannt.

Kommentare

  1. Spannend! Wie geht es weiter?

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  2. War erstmal nur als eine Story gedacht. Mal sehen, ob das ich das nochmal weiterspinne :)

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