Nur 1 Euro

"Haben Sie vielleicht ein bisschen Kleingeld für mich?", fragt mich ein Mensch am
Hauptbahnhof. Ich krame mein Portemonnaie heraus und drücke ihm ein paar Centmünzen in die Hand. Er bedankt sich. Ich lächel. Er zieht weiter. "Haben Sie vielleicht ein bisschen Kleingeld für mich?" Viele sagen nein. Einige schütteln nur den Kopf. Andere nehmen nicht mal die Kopfhörer aus den Ohren.

Szenenwechsel. Ich werfe Nudeln in meinen Einkaufskorb. Es folgen Milch, Joghurt, Frischkäse. Meine Freudin fragt "Wie viel Geld steht dir im Monat für Essen zur Verfügung?" Ohne darüber nachzudenken antworte ich "Da setze ich mir keine Grenzen." 

Ich lebe im Wohlstand. Ich habe eine eigene Wohnung, in der sich ein völlig funktionstüchtiges Bad befindet. Und eine Heizung. Ich habe ein eigenes Zimmer mit einem eigenem Bett und einem Schrank voller Klamotten. Ich gehe einkaufen und achte kaum auf die Endsumme. Ich sortiere Centstücke aus meinem Portemonnaie aus, weil sie mir lästig sind. Ich esse täglich durchschnittlich drei Mahlzeiten, eine davon in der Regel warm. Ich lebe im Wohlstand. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt zu hungern oder keinen festen Schlafplatz zu haben. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt nicht zu wissen wie man sich das nächste Brötchen finanzieren soll. Oder wann. Ich lebe im Wohlstand. Und jeder, der mich fragt "Haben sie ein bisschen Kleingeld?", der tut das nicht. Deshalb kann ich ihm etwas von meinem Wohlstand abgeben. Ein Euro ist nicht viel Geld. Nicht für mich. Einen Euro abzugeben macht mich nicht deutlich ärmer. Er macht mein Gegenüber auch nicht deutlich reicher. Ein Euro ist nicht viel Geld. Aber mit einem Euro kann sich mein Gegenüber vielleicht schon ein Brötchen kaufen. Oder einen Kaffee.

Nach dem Armutsbericht gilt in Deutschland als arm, wer unter der Einkommensarmutsgrenze lebt. Das bedeutet, dass das Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Das mittlere Einkommen wiederrum ist ein Durchschnittswert aller Haushaltseinkommen unseres Landes: Alle Haushalte werden nach ihrem Einkommen der Reihe nach geordnet. Das in der Mitte liegende Einkommen bildet dann das mittlere Einkommen. 2015 gab es in Deutschland rund 12,9 Millionen Menschen, die unter der Einkommensarmutsgrenze lebten. Es ist klar, jedem kann ich nicht helfen. Oder?

Eine Redakteurin von jetzt.de, Charlotte Haunhorst, hat genau das einmal in einem "Experiment" ausprobiert. Ein Jahr lang gab sie jedem scheinbar Bedürftigen, dem sie begegnet ist, Geld. Dabei hat sie sich an einige selbst auferlegte Kriterien gehalten: Jede Person, die sie direkt passierte oder die sie ansprach, bekam mindestens 50 Cent. Obdachlos oder "nur bedürftig" war der Journalistin dabei unwichtig. Ob das Geld am Ende für einen Kaffee oder ein Bier ausgegeben wurde, spielte beim Spenden ebenfalls keine Rolle. 

Meine Entscheidung, wer Geld bekommt, hängt vor allen vom Inhalt meines Portemonnaies ab. Und vom Bauchgefühl. Klar ein bisschen Verstand ist auch dabei. Wenn mensch sagt "Ich brauche das Geld für die Notschlafstelle", dann ist das eine Lüge. Denn Notschlafstellen sind in der Regel kostenlos. Nur Zusatzdienstleistungen, wie zum Beispiel Zahnbürste, Spind oder Dusche kosten etwas. In Essen gibt es zum Beispiel eine Übernachtungsmöglichkeit in der Lichtstraße. Jugendliche bis 21 Jahren können außerdem in der Notschlafstelle Raum58 unterkommen. In Dortmund gibt es die Männernotschlafstelle in der Adlerstraße und die Frauennotschlafstelle der Diakonie in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße. Auch in dieser Stadt gibt es für Jugendliche eine eigene Schlafstelle, das Sleep-In in Dortmund Körne. 

Ich stehe mit einer Freundin am Dortmunder Hauptbahnhof. Ein Mensch spricht uns an "Entschuldigung, habt ihr vielleicht etwas Geld für einen Kaffee?" Ich verneine: "Ich habe leider kein Kleingeld im Portemonnaie." Es fühlt sich nicht gut an, diesen Menschen wegzuschicken. Denn während ich nur 50 Meter weiter zum Bankautomaten gehen müsste, um eine  beliebige Summe abzuheben, von der ich entweder einen Kaffee oder ein Drei-Gänge-Menü kaufen könnte, muss dieser Mensch x-Mal völlig Fremde um Hilfe bitten, um am Ende einen Euro für einen Kaffee zusammen zu haben. Und wird dabei wahrscheinlich mehr Neins als Centmünzen kassieren. "Ist doch nur ein Euro", wird er sicher nicht denken, wenn er das Geld dann irgendwann zusammen hat. 

Kommentare

  1. Danke für diesen Beitrag, Miriam. Mir brennt es auch seit einiger Zeit auf dem Herzen, seit einem Aufenthalt in Hamburg bin ich wieder sehr sensibilisiert für Obdachlosigkeit und auch das, was die Essener Stadtpresse die "Trinkerszene" nennt, wo es ja scheinbar Überschneidungen gibt.

    Ich spende nicht immer, ich merke mir meine Experten aber auch. Oft nehme ich mir auch die Zeit und wenn es für "etwas zu essen" ist, kaufe ich lieber direkt das Essen, als das Geld zu geben.

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  2. Anonym16.11.17

    Ja, zu diesem Beitrag kann ich spontan auch etwas aktuell Schönes berichten, gerade in der letzten Woche habe ich auch 1 Euro in einen Gitarrenkoffer gelegt,in einer Einkaufsstrasse in einer Kurstadt,wo ein vielleicht 50-55 jähriger Mann mit seiner Musik die fast menschenleere Strasse belebte. Es lagen gerade mal ein paar Münzen im Koffer und der Mann lächelte mir zu , unterbrach sein Spielen und winkte mich zu ihm zurück, er bückte sich, nahm eine DVD, die auch in seinem Koffer lagen und lächelte mir zu. Er sagte, sie haben mir eine Freude gemacht,ich möchte ihnen auch eine Freude machen und ihnen etwas zurückschenken.Ich hatte damit nicht gerechnet und antwortete spontan, das tun sie doch schon mir ihrem Lächeln.Ein Zeichen dafür, dass man ja eigentlich selbst der Robin Hood sein möchte, es nicht gewohnt ist, etwas zurückzuerwarten, das gab mir schon zu denken, schon gleich in dem Augenblick, als ich so schnell geantwortet habe,wie muss sich der Mensch fühlen, der auf der Strasse auf die Almosen angewiesen ist und wir auch vielleicht mit einem 1 Euro glauben, einen Menschen damit wertzuschaetzen? Da erinnere ich mich mal wieder an ein altes Sprichwort, wo ich das herhab, ich weiss es nicht, kenn es aber noch.Was die rechte Hand gibt, muss die linke nicht wissen,ja, da ist doch was dran, dieser Mann erzåhlte mir, er sei Muellmann von Beruf, lebe alleine und möchte in diesen regnerisch, trüben Tagen den Menschen mit der Musik etwas geben und für ihn selbst sei es auch viel schöner hier zu spielen, ich schaute auf die DVD, die ich in der Hand hielt und er zeigte mir auf der Vorderseite ein Bild,von einem Oelgemaelde, dass er vor Jahren in der Taetigkeit als Muellmann gefunden hat und nicht verstehen konnte, dass Menschen ein solch von Hand gemaltes Bild wegwerfen, dann wies er mich noch hin, dass es in dieser Stadt einen 1 Euro laden gibt, wo er seine DVD kaufen würde, auf der DVD sind noch Musik von anderen Strassenmusikanten, die er in seinem Leben bereits getroffen hat, ein Freund hat ihm diese DVD' s gebrannt, ich bedankte mich beschämend und sagte, jetzt haben sie mir viel mehr zurückgegeben, als ich ihnen gegeben hab, auch wieder nicht besonders einfuehlsam, was ich jetzt wieder von mir gab, dachte ich, als der Mann abermals zurücklaechelte und abwinkte und antwortete Ach, Geld, Geld ist nicht Alles, ja, nachdenklich ging ich weiter. Musste mich nochmals umdrehen, er winkte, ich winkte zurück. Ja, was ist schon Geld er sah aus wie Gunter Gabriel,wenn ich nicht wüsste,das dieser auch sehr menschliche Sänger tot ist, ich haette geglaubt, er sei es gewesen.Da ich noch nicht zu Hause bin hab ich mir die DVD noch nicht anhören können, freue mich aber schon darauf. Frdl.Grüße A1

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  3. Ja, danke,diese Anekdote beruht auf wahrer Begebenheit,es gibt ja auch Anekdoten,die frei erfunden sind und humorvoll erzählt werden, aber sie ist real und passte genau wie die Faust auf's Auge zu ihrem Bericht. Ja, auch ein Tag in meinem Leben, der mich beeindruckt hat, der mich beschämt hat, mir aber auch Freude gebracht, mich nachdenklich gemacht und unvergessen macht,Und was das Allerschönste ist, es sind Geschichten die das Leben schreibt. Aber der Beitrag von der Vorgaengerin oder von dem Vorgaenger,ein Tag in meinem Leben, das ist ein so wertvolles Schriftgut,eine so einfühlsame, rührende, besinnliche, melancholiche, ich finde nicht all die Worte, die eine solche Geschichte beinhaltet. Es wäre vermessen, einen Kommentar in dieser Rubrik abzugeben, sie würde ja in keinster Weise den Autoren gerecht, so rührend, und traurig schön,das berührt den Leser ja noch nach mehrmaligem Lesen,einerseits tut es mir immer um die brillianten Schreiber leid,hier in ihrem Blog keinen Kommentar zu erhalten,andererseits wäre ein kurzer Kommentar zu oberflächlich,wem diese Erzählung geschrieben,ob frei erfunden oder doch eine Geschichte. die das Leben schreibt,der Schreiber nimmt den Leser mit, er oder sie mag vielleicht keinen Applaus,keine Antwort, keinen Kommentar aber das eine traurige Geschchte so schön sein kann. Das es traurig schöne Erlebnisse gibt, das es bei der tiefsten Trauer noch schöne Momente gibt, das in der größten Not der Zusammenhalt gegeben ist, holt man auch hier wieder weiter aus. findet man unenendlich viel Schönes in traurigen Zeiten,man muss sie nur erkennen, aber dafür bleibt uns meistens nicht die Zeit in unserem Alltag, wünsche ein schönes Wochenende und weiterhin so schöne Geschichten Mit frdl.Grüßen A1

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