Tagebuch: Versinken

Ein Millimeter. Ein Zentimeter. Es ist auf jeden Fall nicht viel. Ein kleines Stück. Nach links oder nach rechts, auf jeden Fall zur Seite. Aber nicht viel. Minimal. Unspürbar. Vielleicht ist es erahnbar, weil der Blickwinkel einen Millimeter weiter zur Seite gerückt ist, aber die Veränderung ist so gering, dass lieber den Sinnen misstraut wird.

Es ist nicht spürbar, bis es durch die Schablone geht. Einem Abbild der eigenen Ränder. Die Bewegung geht darauf zu, aber im letzten Moment passt es nicht. Dann kommen kurz Schwingungen auf, als wäre eine tonloser Gong geschlagen. Das Gefühl, etwas wäre schief oder verzogen übernimmt alle Poren der Wahrnehmung. Und dann blenden sie aus.

Wie beschreibt man am besten, dass alle Sinne abgeschaltet sind? Oder eher nicht verbunden. Denn alle Positionen beziehen sehr wohl Informationen, aber weder Sicht, Geschmack, Gehör, Gleichgewicht, Körpergefühl, Gespür, Geruch spielen noch eine Rolle. Über- und Untersteuern in Einem. Kurz: Ich habe kein Fühl mehr. Als wäre ich unter Wasser, ich ersticke noch nicht, ich weiß, dass ich nur knapp unter der Oberfläche bin, aber ich werde es nicht mehr rechtzeitig nach oben schaffen. Die Zeit ist eingefroren, während sie weiterläuft. Das Herz pumpt Blut, bewegt sich aber kein Stück. Die Schablone klemmt an den Rändern der Seele, weil sie zu weit und zu eng ist.

Ich nenne es "Versinken". Der Prozess, wenn eine innere Trauer alles übernimmt. Es ist keine depressive Lähmung, denn Leben geht sehr wohl noch, was ja oft bei Depressionen nicht mehr geht. Wenn die Beschreibungen stimmen, fehlt bei Depression jedes Gefühl, aber kein Fühl zu haben, bedeutet eher, sich nicht mehr in sich selbst auszukennen.

Die klugen Menschen haben Strategien dagegen gefunden, aber Logik greift nicht richtig. Wie auch, wenn alles nebelig unklar ist? Die Logik sitzt hinter den wahrnehmbaren Sinnen, wie soll sie ohne Informationsversorgung auch greifen? Aber sie arbeitet, im gelben Alarm, im Notstrom, im Autopiloten. Du gehst zur Schule, machst dir Essen, wäscht dich, deine Wäsche, aber es ist dir gleichgültig und wertlos. Du gönnst dir nichts, weil du nichts verdient hast. Du bestrafst dich nicht, weil du nichts verbrochen hast. Du hast keine Strategie, keine Taktik, weil es kein Spiel zu gewinnen gibt.Weder eine noch meine Lösung existieren.

Dieses Mal hat ein anderes Gefühl das Versinken weg gespült, die Wut. Wie "One Punch Mikey" in Snatch war ich unter der Wasseroberfläche, bin nach oben geschossen und habe den härtesten Uppercut ausgepackt. Meine Ohnmacht hat meine Seele an die Wand gedrängt und wenn Leben in die Enge getrieben wird, reagiert es mit Kampf oder Flucht. Ich wurde unfassbar wütend und habe dieser Emotion nachgegeben. Liegestütze, Rennen, Situps, Knechten und Drücken, bis die Muskeln brennen. Das tut dann weh, überschreibt aber jedes andere Gefühl.

Andersherum klappt es nicht unbedingt und auch die Wut hat nur gedrängelt und geschubst. Frustration ist keine Lösung, sondern fester Teil eines Prozess des Scheiterns. Scheitern an einem eigenen Zustand der Kontrolllosigkeit. Andersherum klappt es nicht. Ich kann nicht einfach Sport machen, wenn ich kein Fühl mehr habe. Das hat diesmal geklappt, aber nicht jedesmal. Ich weiß es nicht, was gegen das Versinken hilft. Ich weiß nicht, was ihr gegen so ein Gefühl tut? Aber es lohnt sich, ihm nicht nachzugeben. Es macht eng und klein, schmal und unfrei. Es ist fahren mit angezogener Handbremse. Es ist versinken.

Kommentare

  1. Florian E27.6.16

    Ich habe etwas Ähnliches zur Jahreswende erlebt. Kein Kontakt mehr zu mir, nichts passte mehr. Aber irgendwie musste es ja weitergehen, oder?

    Ich habe einen Cut gemacht. Habe alles aus meinem Leben geschmissen, was ich nicht akut brauchte. Hab mir Urlaub genommen (4 Wochen) und mich runtergefahren. Hab die Informationsflut reduziert (Handy auf Lautlos, Emails checken nur noch einmal die Woche...).

    Meine Sinne hatten einfach zu viel gehabt. Ständig irgendwelche Leute, die was von mir wollten, Projekte, Termine, Druck, und dann wollte ich ja eigentlich noch viel, viel mehr für mich rausholen, wollte mehr erleben, mehr für andere da sein.

    Jetzt mache ich manchmal aktiv nichts, sitze auf dem Sofa oder sonstwo und lasse die Gedanken kreisen, ohne zu fokussieren, ohne Aufgabe, ohne "ich müsste/könnte/würde". Einfach ohne Reize, damit meine überlasteten Sinne wieder zur Ruhe kommen und sich finden können. Denn wenn sie von allen Seiten angeschrien werden, können sie nicht zusammenarbeiten ;)

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    1. Kein schlechter Ansatz, aber diese Entwicklung muss im Inneren erstmal bewältigt werden. Was kann mensch da aktiv tun?

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  2. Anonym27.6.16

    Das ist ein sehr bekanntes Gefühl.
    Ich frage mich dabei oft, wo liegt die Grenze zur Depression ?
    Wie fühlt es sich überhaupt an depressiv zu sein?
    Allein weil etwas so genau definiertes mir nicht gefällt als Beschreibung für mein Gemütszustand bin ich es nicht.

    Ich fühle mich als hätte ich etwas verloren, etwas zurück gelassen, etwas vergessen und es ist zu spät.
    Dann kommt eine große Traurigkeit und dieses Gefühl darin zu versinken.
    Es ist dann die Erkenntnis darüber,dass sich nichts verändert hat aber doch alles anders ist und alles ist perfekt, von Glück gesegnet aber wer hat schon die Garantie, dass das so bleibt ?
    Dann kommt die Angst dazu es zu verlieren, man hat ja schon etwas verloren, seine Kindheit, Jugend, Freundschaften.
    Interessant ist,dass das Gefühl dann auch wieder geht, wie bei den Phasen der Trauer. Verleugnung, Verzweiflung, Wut, Depression und Akzeptanz mit einer weiteren Phase, dem Aufschwung, dem Auftauchen, Enthusiasmus. Wieder da, wieder glücklich und überwältigt davon.

    Ich denke auch, dass der Grund dafür teilweise die Schnelllebigkeit ist.
    Immer erreichbar, immer informiert, tausend Quellen. Werte wie Loyalität, Freundschaft verblassen. Geduld hat niemand mehr, immer muss es was neues geben, besser, schöner, lauter, imposanter. Irgendwann macht die Seele zu und gönnt sich eine Auszeit.

    Gute Nacht :)

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    1. Danke, dass du deine Eindrücke mitgeteilt hast. Die Grenzen zu einer Depression scheinen uns heute oft schwammig. Gerade deshalb finde ich es auch spannend diese Eindrücke hier zu notieren.

      Ich rede regelmäßig mit meinem Hausarzt und anderen Menschen mit fachlichem Blick auf die seelische Befindlichkeit darüber, was diese Symptome zu bedeuten haben. Es herrscht für gewöhnlich die Sicherheit vor, dass es keine Depression ist. Vom Autor Tobi Katze habe ich gelernt, dass so eine klare Definition aber ganz befreiend sein kann. Weil mensch endlich weiß was es ist.
      Und deshalb taufen wir es "versinken", damit es nicht mehr dieser geisterhafte Schatten ist, sondern einen Namen bekommt. "Wir" meint vorallem meine Freundin, die diesen Begriff geprägt hat.

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