Wie ich mir das Lesen wieder beigebracht haben

Lesen, das ist ja ein Schlüssel zu Welten, die uns sonst verwehrt bleiben würden. Es ist die Chance die Tagesnachrichten zu bekommen, Wissen zu erweitern, uns an Geschichten anderer realer und künstlicher Personen abzuarbeiten. Als kreative Menschen ist Lesen aber auch Recherche, die Arbeit zu unseren Themen immer mehr Expertise zu bekommen oder auch neue Techniken zu lernen. Das Lesen im Internet ist dabei für mich manchmal noch anders zu bewerten, als das Lesen eines Buches oder Magazin. Denn während das Internet dir oft alles mundgerecht vorbereitet, es eilig hat und kürzt, damit du zwischen Toilette und Straßenbahnfahrt auch wirklich brav auch alle Werbung anschaust, die rund um den Artikel geschaltet ist, ist es einem Buch oft recht herzlich egal wieviel von deiner Zeit es verbraucht. Und deshalb haben wir dann auch manchmal Angst vor Büchern. 

Im letzten Jahr sind bei mir die regelmäßige Fahrt zu einer Arbeitsstätte entfallen. Und damit auch eine mögliche Lesezeit. Losgelöst aus dem eigenen Umfeld und Haushalt, ist es leichter alle Verpflichtungen zu vergessen. In der Bahn oder dem Bus bis du schutzlos einem Zeitfenster - in dem dein Körper durch die Gegend geschoben wird - ausgeliefert. Eine tolle Zeit um zu lesen, wenn mensch sie nicht am Handy verdaddeln möchte. Aber als diese Tour mehrfach die Woche entfallen ist, ist bei mir auch das Lesen hinter rüber gefallen. Für einen Lerntypen wie mich ist das fast ein fataler Einschnitt in die Lebensqualität.

Trotz "Leseecke" in meinem Zimmer, habe ich es kaum mehr geschafft mich ans Papier zu bekommen. Mir fehlte die Ruhe, dachte ich, und ein paar andere Ausreden hatte ich auch noch. Was mir aber in Wirklichkeit fehlte, war das Lesen selbst zur Gewohnheit zu machen. Genauer, das Lesen daheim. Denn was ich ritualisiert hatte, war das Lesen unterwegs im ÖPNV. Auch schon vorher in meinem Leben habe ich daheim kaum Lesen können. Weder als Kind, noch in meinem Versuch eines Studiums, habe ich mich an meinem Schreibtisch über die Bücher bekommen.

Mit einem Hauch Ironie, hat mir aber genau das Rumdaddeln am Handy - in meinem Lesesessel - dabei geholfen wieder einen Zugang zum Lesen zu bekommen. Es tritt zufälligerweise auf: James Clear.

In einem kurzen Video, eine Aufzeichnung eines Interviews, erzählt James Clear von einem Klienten mit dem er zusammen gearbeitet hat. Dieser wollte wieder Sport machen, hat es aber gehasst ins Gym zu gehen. Als Technik um dieses Problem zu lösen, hat Clears Klient die "Art of showing up" für sich entwickelt. Die Kunst des Auftauches.

Mehrere Wochen lang ist er ins Fitnessstudio gefahren. Er hat sich einen Timer gestellt und durfte genau Fünf Minuten trainieren. Dann ist er wieder nach hause gefahren. Was aus sportlicher Sicht vielleicht erstmal nicht sinnvoll klingt, ist auf Seiten der Gewohnheiten super sinnvoll. Denn auch wenn das Ziel war mehr Sport zu machen, war die Hürde die aus dem Weg geräumt werden musste, die fehlende Bereitschaft sich zur Sportstätte zu begeben. Dadurch, dass dieser Teil der Aufgabe aber geübt und ritualisiert wurde, ist die Hürde irgendwann weggefallen.

Beeindruckt von diesem Video habe ich James Clear recherchiert und mir dann sein Buch "Atomic Habits" gekauft. Ein ganz schön dicker Schinken. 350 Seiten. Ich hatte gar keinen Bock so viel lesen zu müssen und war eingeschüchtert von der Menge. Aber inspiriert von dem Video habe ich mich gefragt, was wäre meine "Art of showing up", aber fürs Lesen?
Mein Ergebnis: Eine Seite pro Tag.
Eine Seite schaffe ich auf jeden Fall, ich würde jeden Tag Erfolg haben. Genauso, wie der andere Mensch in der Anekdote jeden Tag Fünf Minuten Sport auf jeden Fall schafft. An einem tapferen Tag, wenn der Flow es dann erlaubt hat, durfte ich natürlich auch mehr als eine Seite lesen. Und auch wenn ich weiterhin nicht in meinem Lesesessel gelesen habe, habe ich Orte und Momente gefunden, meine eine Seite pro Tag zu schaffen. Teilweise auch mit Erinnerung im Handykalender.

Als ich mich dabei in James Clears Buch voran gearbeitet habe, habe ich aber auch noch etwas wichtiges gelernt. Oft steht einer guten neuen Gewohnheit eine schlechte alte Gewohnheit im Weg. Oder sie lassen sich gut miteinander ersetzen. Wo konnte ich also vielleicht eine weniger tolle Gewohnheit ablegen um sie mit der neuen besseren zu ersetzen?
Da alle seit der Pandemie den Begriff des "Doomscrollings" und die zulangen Zeiten in den "sozialen Medien" gut kennen, war mir schnell klar, wo ich etwas ablegen möchte. Daraus entstand ein kombiniertes Set aus Regeln/Angewohnheiten:
- Jeden Tag eine Seite mindestens lesen
- Kein Handy beim Gang zur Toilette
Denn dort saß ich oft länger als ich musste, nur weil ich im Netz versunken war, mit Kram der mich nicht so wirklich voran gebracht hat. Lesen fühlte sich da für mich wie ein guter Ersatz an.

James Clears Buch und Methoden mag ich hier dringend empfehlen. Denn nicht nur das Lesen, sondern auch jede andere Sache die wir kultivieren wollen bei uns, lassen sich über das Verändern von Angewohnheiten gut umsetzen. Und gerade für kreative und künstlerische, noch mehr für freiberufliche Menschen ist es sehr relevant sich gute gesunde Strukturen zu schaffen.

Daraus, dass ich 2022 noch dachte, ich könnte nicht gut lesen, sind dann am Ende ganz viele Bücher und Magazine geworden, deren Lektüre mich sehr glücklich gemacht hat. Es ging sogar bis zu dem Punkt wo ich formuliert habe, dass ich jetzt das Gefühl habe, zu studieren. Nicht im Sinne einer Uni, sondern so wie in alten Zeiten Menschen im Studienzimmer gesessen haben und ihren Interessen folgen. Und hey, an manchen Tagen lese ich sogar im Lesesessel.

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