Fluchtpunktperspektive

Anmerkungen:
An diesem Text schreibe ich jetzt schon seit Mitte 09 und er ist immer noch nicht fertig. Sind bestimmt noch einige Fehler drin. Danke für jede Sichtung.



Fluchtpunktperspektive
Fünfte Stunde. Kunstunterricht. Thema: Perspektive.
Ich will gerade nur nach Hause in mein Bett. Da ist es warm und friedlich. Ich muss nicht aufmerksam sein und kann dämmern. Meine Eltern verfluchen diese Einstellung. Sie wollen, dass ich möglichst gute Noten bekomme, damit mir mal alle Türen offen stehen. Ich sehne mich überhaupt nicht nach offenen Türen. Ich will geschlossene. Eine geschlossene Tür in meinem Zimmer, damit ich aus meinem Bett heraus auf mein Mexikoposter schauen kann. Es klingelt, Schulschluss.
Auf dem Heimweg: nur Mexiko. Viele Scherzen darüber nach Mexiko fliehen zu wollen, aber für mich ist das kein Scherz. Ich gehe wirklich. Deutschland ist für mich nur enttäuschend Ich mag meine Mitmenschen nicht. Rennen, Hektik, Termine, Eile, Rennen. Das alles hier ist für mich reizfrei.
Die Bahn fährt ein Weilchen. Sie ist laut und stört. Sie zieht mich aus meinem Traum, nein, meinem Plan. Mein eigener Hof in Mexiko, auf dem ich mich selbst versorge. Meine Eltern wollen Karriere für mich, aber ich wünsche mir Arbeit ohne Wettrennen. Nur arbeiten um der eigenen Seele zu genügen. Immer werde ich mit „Generation Playstation“ bezeichnet. „Die respektlose Jugend“. Wir spucken auf den Boden und halten alten Frauen nicht mehr die Tür auf. Deshalb mag ich es hier nicht mehr: Was die Menschen nicht sehen, das glauben sie nicht, aber wenn sie es im Fernsehen sehen, dann schon.

Ich lasse meinen Blick durch die Bahn schweifen und denke immer noch an Mexiko. Kurz bleibt mein Blick an einer jungen Frau hängen. Sie ist hübsch. Sie schaut immer wieder auf die Uhr und wippt mit einem Bein. Ich nehme sie mit nach Mexiko. Auf unseren Hof. Ich erwische mich dabei, wie ich auch nervös mit dem Bein wippe. Ich will nach Mexiko, aber wo will sie hin?

Ich will nur nach hause, mich schnell fertig machen und dann bloß nicht zu spät kommen. Es ist Donnerstag „Ladies Night“. Mit den Mädels treffen wie jeden Donnerstag. Sektchen und Cocktails in der Stadt und dann zur AfterWorkSingle-Party. Wie jeden Donnerstag. Wir sind Stammkunden, wobei das bei einer Single-Party nicht unbedingt eine tolle Auszeichnung ist.
Als ich vor dem Spiegel stehe und mich betrachte, da sehe ich eine junge Frau, die gerade anfängt älter zu werden. Erste heimliche kleine Falten schleichen sich in mein Gesicht. Ich kämpfe mit Sport und Cremes gegen das altern an. Als ich in meine Augen schaue, da schaut aus ihnen ein kleines Mädchen hinaus, das genau so wenig wie ich älter werden wollte. Damals war die Welt noch schön klein.
Ich hatte eine glückliche Kindheit, voller familiärer Liebe und Fantasie. Meine Eltern haben mir immer viele Geschichten und Märchen erzählt. Mit dem Nachbarsjungen habe ich immer meine ganz eigenen Abenteuer erlebt und wir sind zusammen durch die Weltgeschichte gereist. Nicht durch die wirkliche, sondern unsere ganz eigene Weltgeschichte.
Napoleon war Erfinder der Pizza und Groschenromane erzählten von Groschen. Das Telefon wurde von Dietmar Tele und Ursula Fon erfunden und nach der Glühbirne sollte man mich lieber gar nicht erst fragen. Wir haben zusammen versucht Kuchen zu backen und haben dann erfolgreich zusammen in die Wohnzimmer meiner Eltern gebrochen. Das war eine schöne Zeit.
Wenn ich so zurück schaue, bekomme ich Angst vor einer Zukunft alleine. Mein Blick ist auf einen Freund gerichtet. Auf einen Mann zu dem ich gehe, der mit mir in die Fantasie flüchtet. Ich will das hier nicht mehr. Nur endlich hier weg können, nicht müssen. Endlich kein Donnerstagssingle mehr sein. Endlich eine Nachricht an die anderen schicken: „Ich komme nicht mehr.“ Vielleicht wäre eine Beziehung mit meiner Motivation nicht gut, aber sie ist alles, was ich mir zur Zeit wünsche.
Mit Sekt und Cocktail betäubt stehen wir im Club und halten Ausschau. Wie Geier sitzen wir auf unseren Hockern und spähen auf die Tanzfläche. Die anderen suchen bestimmt nur eine Leiche die sie fleddern können. Ich merke, wie sehr mein Herz mich von ihnen wegtreibt.
Als ich so durch den Club laufe, da sehe ich einen jungen Mann im Anzug. Seine Krawatte ist offen und er schaut tief in sein Glas. Eine eigenwillige Faszination lässt mich ihn beobachten.
Zwischen Lachen und Zweifeln gefangen, nimmt er immer wieder einen tiefen Schluck. Er wirkt, als hätte er etwas verloren. Seinen Job? Seine Freundin? Hoffentlich seine Freundin. Wenn es seine Freundin ist, dann gehe ich gleich zu ihm hinüber und flüchte mit ihm in meine Kindheit. Zurück zu Liebe, Fantasie und Sorgenfreiheit.
Ich hab meine Kindheit verloren, aber was hat er verloren?

Was habe ich bloß verloren?
Das große Meeting im Hotel. Es geht um einen großen Geschäftsabschluss. Wenn wir das heute stemmen, dann werde ich mit Sicherheit befördert.
Um es vorweg zu nehmen: Ich habe es geschafft. Das Meeting war überzeugend, die Präsentation hervorragend, der Vertrag eigentlich kriminell aber wir haben ihn verkauft bekommen.
Aber ich war nicht wirklich da.
Aus meinen Augen, an der Flipchart vorbei, durch die Panoramaglasscheiben, über die Terrasse, in den Pool.
Mein Mund hat „aussagekräftige Statistiken“ präsentiert. Wir liegen gut, unsere Zahlen sprechen für uns, sie werden kein besseres Angebot bekommen, Pool.
Kristallklares Wasser ruft nach mir. Es ruft meinen Namen. In meinem Kopf plane ich meinen Sprung ins Becken.
Aus meinem Anzug, an der Flipchart vorbei, durch die Panoramaglasscheiben, über die Terrasse, Arschbombe.
Wie wohl die Partner schauen, wenn ich meinen Anzug ausziehe? Ob die wohl mitkommen? Wenn die alten runzeligen Männer in den Pool gehen, dann lösen die sich bestimmt wie Brausetabletten auf. Der ganze Talg und das Alter kommt dann aus den Falten. Ich geh lieber alleine schwimmen.
„Sie werden bei unseren Zusammenarbeit sehen, dass wir einen hervorragendes Standing haben, aufgrund unseres Mitarbeiterpools.“
Pool. Pfeif auf das Meeting.
Pool. Aussteigen und Abspringen.
Pool.
Was hab ich verloren? Selbst mein Scotch sieht aus wie ein kleiner Pool. Aber ich sehe davon ab hinein zu springen.
Was hab ich verloren und warum soll ich es in einem Pool finden? Liegt es etwa am Boden? Ich tauche in mein Gedächtnis und schaue durch den chlorigen Dunst meiner Erinnerung. Tauchen.
Das wäre fantastisch. Meine eigene Tauchschule oder Wracktaucher in der Südsee. Einfach den Kopf unter Wasser und verschwinden.
„Noch einen?“, fragt die Bedienung. „Nein, danke.“, denn ich muss abtauchen. Ob sie wohl auch tauchen will?

Ich will nur aus diesem Sumpf wieder auftauchen.

2009 Bedienung in einem der schlimmsten Schuppen der Stadt.
2007 – 2009 Putzfrau in einer Imbissbude
2006 – 2007 Schwangerschaftspause
2006 3.Quartal Studiumsbeginn

Seitdem habe ich nur noch Schulden
Über 600 Euro Studiengebühren pro Semester.
Über 300 Euro Miete pro Monat
Ein bisschen Kindergeld und das wenige Geld aus meinem Job plus Trinkgeld.
Das Trinkgeld. Ich bekomme mehr, arbeiten meine Brüste mit. Zugeknöpft und abgeschlossen gibt es keinen Cent. Manchmal gibt es ein paar Euro extra, wenn ich mir vom Chef in den Hintern kneifen lasse.
Ich wollte mich nie für irgendjemanden prostituieren. Ich wollte frei sein und mein Leben selbst gestalten.
Als ich schwanger geworden bin, ist mein Freund weggelaufen. Meine Eltern auch. Ich kann nicht weglaufen.
Wohin auch?
Alles was mir geblieben ist, ist die Hoffnung auf mein Studium und die Freude und Liebe an meinem Kind. Meine kleine Sternschnuppe, die meine Wünsche wahr macht. Mein Grund morgens auf zu stehen und der schönste Grund Augenränder zu haben. Die kann man überschminken, aber wenn ich an ihre strahlenden Augen denke, dann ist mir auch so was egal.
Je fester ich sie liebe, um so mehr wird meine Wut und auch meine Angst gelöst. Rechnungen, Mahnungen, Inkassobüros, Kredite, Schulden, Uni, Zeitmangel, Stress und dann ist sie einfach da und lacht.
Ich kann und will nicht sagen, dass ich dumm war, dass ich einen Fehler gemacht habe, denn das würde meine Kleine zu einem Fehler machen und sie ist alles andere als das. Das Timing war vielleicht nicht perfekt und geplant war es auch nicht. Aber wer kann Leben und Liebe schon planen. Mein Freund wollte die Abtreibung. Er sprach von Managergehältern und guten Zeitpunkten für ein Kind, er sprach vom eigenen Haus in einer anderen Stadt und seinen Plänen.
Ich war klug mich für ihr Leben zu entscheiden und die Herausforderungen anzunehmen.
Auch wenn ich mich in der Bahn nach der Schicht dann schmutzig fühle, betatscht von ekligen Kerlen und verachtet von deren Frauen, dann weiß ich, dass die Zukunft noch bessere Zeiten für uns hat. Mein Blick in die Zukunft ist der auf meine Sternschnuppe, der Blick den ich teile, der ist ein Lächeln in die Bahn.. Ein Blick der bei einem Jungen mit Krücken stoppt. Wie läuft wohl sein Leben?

Mein Leben muss wieder laufen.
Ich muss wieder laufen. Ohne Laufen bin ich ein Niemand. Und ich bin wirklich nicht das Material für einen Niemand. Ich werde ein Jemand sein, ihr werdet schon sehen.
Mein Trainer sagt auch, dass ich es nach ganz oben schaffen kann, in die allerhöchste Spielklasse. Bundesliga. Ich müsste nur gut trainieren und auch in der Schule überzeugen, dann komm ich schon zu einem der großen Vereine. Eigentlich war ich auch schon bei einem. Zumindest beim Probetraining. Und die wollten mich. Und dann kam die Verletzung. Umgegrätscht im Schulsport. Ich weiß nicht, ob es Neid oder Unfähigkeit war, ist mir aber auch egal. Mit dem gebrochenen Bein habe ich immer noch den Oberkörper trainieren können und Opa hat mir seine alten Aufzeichnungen von Bundesligaspielen gebracht. Heute wird zwar ganz anders gespielt, aber lernen kann man von allen.
Lernen für die Schule ist dagegen nicht ganz so meins, aber pfeif drauf. Die Noten sind gut genug um die Schule zu schaffen und wenn ich erst mal Profi bin, dann kann mir das eh egal sein. Endlich.
Dann kann ich endlich meiner Mutter ein schönes Haus kaufen. Und sie muss nicht mehr als Putzfrau arbeiten. Ich muss nur ordentlich durch die Reha kommen.
Laufen an einer Stange entlangen, den Fuß wieder ganz abrollen, später dann mal aufs Rad und dann kann ich auch schon wieder Laufen gehen. Dann trainiere ich noch Kopfbälle und wenn in unserer Liga die ersten Erfolge kommen, dann kann ich nach dieser Saison noch mal zum Probetraining. Egal ob bei den Schwarz-Gelben oder den Blau-Weißen, ein Verein wird mich schon nehmen. Dann in der zweiten Mannschaft von einem motivierten erfahrenem Trainer die Spitzfindigkeiten und noch mehr taktisches Wissen bekommen und zum ersten mal in die Erste Mannschaft berufen werden. Da direkt das erste Tor im ersten Spiel und volle Leistung im Training. Noch mehr lernen, Angebote von anderen Vereinen bekommen, Interviews für den Kicker und Anwärter für die Torschützenkanone. Der erste Spitzname durch die Zeitungen und Unterschriften auf Trikots mit meinem Namen drauf. Die Meisterschaft, die Qualifikation für die Champions-League und die Nominierung durch den Bundestrainer.
Aus den Katakomben kommen und hören, wie Tausende meinen Namen rufen. Ich bin ihr Star, ich bin ihr Held. Die ganzen Niemande sitzen da, wo ich früher mit meinem Opa saß und wer weiß, vielleicht träumen Kinder im Stadion dann davon irgendwann mal ich zu sein. Auch ein jemand zu sein, von der Straße auf den heiligen Rasen. Vom Niemand zum Jemand. Vom Zweifel zur Freude und von der Armut zur Sorgenfreiheit. Vom Vorort ins Fussballausland.
So wird es laufen, wenn ich wieder laufen kann. So ist es, wenn die Reha vorbei ist. Ich trete meine große Reise an, genau wie die Tramperin, die da an der Straße steht mit einem Pappschild. „Weg hier“ steht darauf.
Du kannst es schaffen, wenn du wieder weiter kannst.

Ich kann nur schaffen, wenn ich wieder weiter kann.
Euer Kapitalismus wird nicht mein Gefängnis. Ich bin frei wie ein Vogel wenn er fliegt und was wäre ich denn für ein Vogel, wenn ich nicht fliegen würde? Nein nein, seid ihr mal schön Pinguine in euren Anzügen und watschelt den Aktienkursen hinter her. Fresst weiter Druckertinte und reibt euch mit Fleisch ein. Mein Leben wird das nicht. Behaltet eure Fesseln und eure Peitschen, ich steh nicht auf Schmerzen. Wenn eure Ketten mich halten, dann brennen mir die Knöchel, wenn ich davon laufen will. Blut und Feuer. Blut und Feuer. Ich lebe nur für eins von beidem.
Jede eurer Bindungen fügt mir nur Schmerzen zu, aber ich will im Frieden leben. Ohne eure Schmerzen. Und wo Frieden ist, da wird man auch satt, denn wo Frieden ist, da ist auch Platz für Kunst und wo Menschen Zeit für Kunst haben, da wird gegessen und es perlt. Sektperlen rollt die Kehle hinunter und befeuchtet das Herz. Da entstehen Brücken zwischen Gefühlen und Gedanken und stürzen wieder ein, damit man aus ihnen Statuen bauen kann. Da verschieben sich die Buchstaben, da mit aus Inspiration einfach Innovation wird. Ihr Gefangenen werdet es nicht verstehen, denn das sind keine Konstruktionen eurer Pinguinwelt, es ist der Ausdruck einer schönen neuen Welt, von der ihr heute noch gar nicht wusstet, dass es sie morgen geben wird. Das Bild eines Gefühles, dass es noch gar nicht gibt, da ihr es erst fühlen könnt, wenn ihr das Bild gesehen habt. Ein Bild, dass ich gemalt habe, irgendwo auf Rücksitzen von Autos oder Ladeflächen von LKWs. Egal wo, aber bitte irgendwo. Ich will nicht konkret sein, nicht für eure Satelliten zu orten, denn sonst bin ich ja auch in einem Ort gefangen. Dann macht ihr mir die Grenzen meines Körpers zu meinem Gefängnis, aber ich rauche die Sektperlen und verneble euren Blick. Ich durchbreche die Formen meines Körpers und verliere einfach jede Struktur. Ich werde zu meinem Gefühl und bin nur noch mit scharfen Sinnen wahr zu nehmen. Ich werde der süßliche schimmelige Geruch eines Lebens, das euch hätte schmecken können, bevor es schlecht geworden ist. Das Leben, das ihr hattet, bevor ihr Bauarbeiter, Kellner, Mütter und Polizisten geworden seid.
Ich habe keine, sondern bin eine Fluchtpunktperspektive.

Kommentare

  1. Danke für den Text!

    Sehr gute Idee mit schönem Konzept. Besonders die Übergänge gefallen mir, es fehlte dazwischen nur ein *swoosh* wie im Film und man fliegt in die Gedanken der anderen Person.

    Natürlich hattest du mich schon mit dem Fluchtpunkt Mexiko.


    Korrekturhinweise:

    - Laufen an einer Stange entlang(en)

    und ich glaub einmal war nach Hause klein geschrieben. Ist aber noch zu früh für mich...

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Anmerkungen? Fragen? Wünsche? Schreib gerne einen Kommentar. Ich schaue regelmäßig rein, moderiere die Kommentare aber auch, also bleibt nett.

Vielleicht auch spannend: