Optische Täuschung

Zwei Kinder sitzen im Sandkasten. Nebeneinander. Vor jedem steht jeweils eine der traurigsten und hässlichsten Sandburgen, die es je gegeben hat. Förmchen und Schaufel liegen unbenutzt in der Mitte zwischen den Kindern. Beide wollen die beste Sandburg der Welt bauen.

Das eine Kind weiß alles über Sand, das andere alles über Architektur, aber zusammen können sie nicht bauen, nur weil sie einmal mit den falschen Freunden gespielt haben.

Früher haben sie beide an einem Schloß gebaut. An einer Sandburg, so schön, dass die Menschen stehen bleiben und sagen: "Was für eine schöne Sandburg." Und die Beiden lächeln und bauen weiter.
Und wie die Menschen nach Hause gehen, so denken sie an die Sandburg. Sie träumen sich in ihre Kindheit, in ihre Sandburgen zurück und dann träumen sie sich in die Zukunft, in die Sandkästen und Sandburgen ihrer Kinder und wünschen sich, dass auch diese Sandburgen so schön werden. Eh die Menschen sich versehen, träumen sie nicht mehr in der Nacht, sondern am Tag von der Burg. Und sie wehren sich dagegen und sie lassen sich darauf ein und dann wehren sie sich wieder bis sie sich fragen, weshalb sie sich gegen so etwas schönes wehren wollen. Aber sie finden keine Ruhe, sie finden keinen Schlaf mehr, bis sie Hammer und Nagel in die Hand nehmen und beginnen ihre eigenen Häuser um zu bauen. Ihre Häuser sollen wie diese eine Sandburg aussehen.

Und die Künstler sehen die Sandhäuser, bleiben stehen und sagen: "Was für schöne Häuser." Und die Menschen werden ihnen von der Sandburg erzählen. Und auch die Künstler träumen und schlafen nicht mehr, bis sie die schönsten Gedichte geschrieben und die lieblichsten Lieder gesungen haben, über eine Sandburg. Tausendfarbige Gemälde von Sandburgen tauchen in den Museen auf. Und die Künstler greifen Pinsel, Gitarre, Kamera und Stift und laufen zu den beiden Kindern, um von ihnen zu lernen. Sie beobachten, sie hinterfragen und diskutieren und zum ersten Mal sind sich alle einige: "Unsere Kunst soll wie eine Sandburg sein."
Doch die beiden lächeln nur und bauen weiter. Und wie die Lieder sanft in der Nacht durch die Wälder schleichen und über die Flüsse segeln, so erreichen sie die Menschen überall und wirklich jeder ruft: "Ce doit est un château de sable!" "It should be a Sandcastle!" "Het zou een zandkasteel moeten zijn!" "Πρέπει να είναι ένα κάστρο άμμου!" "Dovrebbe essere un castello della sabbia!" und in noch unzähligen anderen bekannten und unbekannten Sprachen rufen die Völker auf den Stadtplätzen, vor den Schauspielhäusern und auch vor den Fabriken.

Die Pressekonferenz beginnt um Punkt Zwölf Uhr und die Vertreter aller Nationen stehen zusammen in einer Reihe vor den Kameras. Frau Merkel tritt für uns vor und verkündet, so wie alle anderen es auch tun: "Wir möchten uns entschuldigen, denn wir alle haben uns all die Jahre geirrt. Unsere Welt, sie muss und soll eine Sandburg sein!" Und die Beiden lächeln und bauen weiter.

Als ich mir den Sand aus den Augen reibe, da zerfällt die Täuschung. Die beiden Kinder altern blitzartig, bekommen Namen, Geschichten und Narben; sie bekommen Ausbildung und Beruf und verlassen den Sandkasten. Sie verlassen den Sandkasten und sie verlassen ihren gemeinsamen Traum von einer gemeinsamen Sandburg, die alle anderen übertrifft, eine Sandburg die nicht in die Geschichte eingeht, sondern die Geschichte neu schreibt. Und Förmchen und Schaufel liegen ungenutzt in der Mitte zwischen ihnen, nur weil sie bei verschiedenen Freunden gelernt haben.

Enttäuscht reibe ich mir den Schlafsand wieder in die Augen zurück.