Ein Gedankenexperiment: Alles was ich weiß

"Alles was sie zu dem Thema wissen, schreiben sie auf.", hat mein Berufsschullehrer mit Sicherheit gesagt, aber ich bin damit beschäftigt mir zu notieren, was in der Klausur dran kommt, da zerschellen die Nebensätze an meinem Ohr. Daher kommt nur "Alles was sie wissen, schreiben sie auf." in meinem Gehörgang an. Mein Gehörgang ist ein ganz besonderer, in ihm befindet sich neben all diesem anatomischen Schnickschnack eine riesige goldene Waage, auf die alle Sätze und Wörter müssen, um auf Doppeldeutigkeiten untersucht zu werden. Es ist ein trauriger Prozess, bei dem ich mir vormache sehr intelligent zu sein, weil ich alle inhaltlichen Ebenen eines Satzes gleichzeitig erfasse und den gemeinten Kontext aber oft ignoriere.

Diesmal aber ist der einfahrende Satz kein Kleinwagen, sondern ein geschickt getarnter Mehrtonner, der sich nicht so einfach weiter verarbeiten lässt, weil er so viel Gewicht mit sich bringt. "Alles was sie wissen, schreiben sie auf." Eine Klausur ist ja für gewöhnlich die theoretische Lernzielüberprüfung eines kleinen Teilausschnittes des eigenen Kenntnisstandes. Viele überlisten ihren Kopf, parken das Wissen nur kurz vor der Klausur im Kurzzeitgedächtnis und verlagern es dann auf die Klausurbögen. Dass danach nichts mehr im Kopf ist, ist egal, so lange der Zoll des Schulssystems einen durchwinkt.

Aber was mich nicht loslässt, ist das ganze andere geistige Gepäck, das wir nicht mehr ausladen oder als so selbstverständlich ansehen, dass wir es nicht mehr wahrnehmen. So wie eine Gabel im Besteckkasten der Küche unserer Wohnung: Wir besitzen sie, aber sie ist so ein kleiner unabdingbarer Teil des Gesamtkonzeptes, dass wir es erst bemerken, wenn wir keine mehr haben. Sie gehört zum ständigen Inventar, einem Besitz, den uns gefühlt keiner mehr wegnehmen kann. Und den möglicherweise keiner mit Sicherheit benennen kann. Aber was passiert, wenn wir es probieren?

Als ich einem Freund davon erzähle, dass ich gerne mal alles aufschreiben möchte, was ich weiß, antwortet er mit der besten Zusammenfassung die bei so einem Projekt möglich ist: "Puh!". Einfach sich hinsetzen wird ja nicht funktionieren, wenn Menschen schon für Klausuren zu einem Thema mehrere Stunden bekommen, müsste es ja tagelang dauern, alles mal eben zackig zu notieren. Und eine ja, hm, "unakademische" Umgebung würde auch nicht funktionieren. Es muss schon ein Arbeitsumfeld sein. Ein Bereich, wo fokussiert und ablenkungsarm geschrieben werden kann.

Als ich ihn frage, ob er mitmachen würde, antwortet er mit dem, was ich befürchte, wenn Menschen privat ein unwissenschaftliches Experiment machen möchte: "Nö, aber viel Spaß."

So richtig entmutigt bin ich dadurch nicht. Ich erwische mich dabei, wie ich über die Durchführung nachdenke.

Ein Klassenraum wäre gut, gerne etwas mit einer Aussicht, die genug Ablenkung bietet um kurz den Kopf zu reseten, aber so wenig, dass Mensch nicht der Prüfung vor sich entgleitet. Hauptsächlich will ich aber die Infrastrukturen eines Klassenraums nutzen.

Trinken und Essen wären gut, da es eine große Ausdauerprüfung wird. Mit der Müdigkeit sinkt natürlich die Leistungsfähigkeit und Nahrung ist eine gute Energiequelle, wichtig dabei: Gesund geht vor Geschmack, Apfel statt Fritten.

Viel Papier. Digital funktioniert so etwas nicht, denn wenn ich mein Wissen reproduziere, muss ich auch mal was zeichnen können. Schrift alleine reicht mir vermutlich nicht, um alles darstellen zu können. Auch, weil mein Wortschatz mir gar nicht die Optionen bietet um wirklich alles beschreiben zu können, was ich kenne. Außerdem sind Symbole und Bilder auch Stützen unseres Gedächtnisses.

Lasse ich Impulse von Außen gelten? Wenn ich zum Beispiel wirklich in einem Klassenraum schreibe, lenkt das meine Aufzeichnungen zu Schulfächern, Personen, Inhalten, Tafeln, Kreide und Bildungssystem, aber einen Raum ohne Impulse wird es wohl kaum geben. Ich habe keinen wissenschaftlichen Anspruch, also kann ich diese Faktoren gerne vernachlässigen.

Wie würde ich wohl meine Klausur über jegliches Wissen in meinem Kopf beginnen? Wie schlagen unterschiedliche Menschen die Bögen zwischen den Themen? Wem sollte ich so eine Arbeit zur Korrektur vorlegen?

Das Experiment reizt mich. Ich weiß nicht mal, ob es lösbar ist. Wenn es bei Sprache einen aktiven Wortschatz und einen passiven gibt, dann könnte das doch auch einen Rückschluss auf unser Gedächtnis zulassen. Haben wir ein aktives Wissen, dass wir gerade immer nutzen können und ein passives Wissen, dass wir nur aktivieren, wenn wir den Impuls bekommen? Würden mir also beim Schreiben die Gedanken ausgehen, weil mir die Impulse fehlen oder ich nicht mit meinem Bewusstsein entscheiden kann, was ich aus dem passiven ins aktive Gedächtnis ziehen kann?

Fragen, die ich mit meinem jetzigen Wissen nicht beantworten kann, aber recherchieren werde. Ich bleibe auf jeden Fall an der Sache dran. 

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