Tagebuch und Fotos: Auf der Suche nach dem Juister Gold
Am Frühstückstisch glaubt eine
Mitreisende, die friesische Insel Juist wäre mal von Piraten und
Seeräubern besiedelt worden. Selbst wenn es sich später nicht als
falscher Mythos herausgestellt hätte – Meine Gedanken waren schon
lange in wilde Freibeuter-Geschichten abgedriftet mit all den
friesischen Störtebeckern, raffinierten Finten zur See und heftigen
Gelagen. Dann nuckelte ich weiter an meinem Früchtetee herum und
spürte merklich meine unfassbare Distanz zu diesem Leben.
Oft mache ich mir ja vor, dass ich
gerade dem friesischen Leben nahe stehen würde, nur weil mein Vater
ursprünglich in einer Siedlung nahe Wittmund geboren und
aufgewachsen ist. Als quasi ein ostfriesisches Halbblut, aber wenn du
nie länger als eine Woche im Norden gewohnt hast, dann merkst du
schon auch, dass du dir was vormachst. Keine Kenntnis darüber, dass
das frisische Platt und niederländisch aus der selben Sprache
entsprangen oder dass du den Löffel in die Tasse stellen musst, um
keinen Tee mehr zu bekommen, machen dich kulturell zum Friesen. Nicht
mal Halb. Du bist am Ende nur ein gut informierter Tourist. Stinkt
mir ja total, kannste aber nichts gegen machen, außer hin zu ziehen.
Wenn du kein Gast sein willst und kein
Einheimischer sein kannst, dann bleibt dir leider kaum eine andere
Möglichkeit, als das Zielgebiet zu erobern. Das klingt martialisch
und brutal, da erobern immer mit einem kriegerischen Handeln
verbunden wird. Einmarschieren, Übergreifen, Überschreiben. Als
Tourist alles nicht zu empfehlen, da mensch meist im Urlaub,
zahlenmäßig, körperlich und auch strategisch vollkommen unterlegen
ist. Die moderne Eroberung einer Insel wie Juist sollte sich
vielleicht daher einfach auf ein paar Konsonanten und Vokale
verzichten: Marschieren, Begreifen, Beschreiben.
Aber jede Eroberung, da sind wir auch
wieder bei den fiktionalen piratischen Wurzeln Juists, sollte auch
Gewinne bringen. Im besten Fall Gold. Spoiler vorne weg: Marterielle
Reichtümer gibt es auf Juist nicht. Das hat die Freibeuter wohl auch
abgehalten. "Juist" kommt namentlich vom friesischen Wort
"Güst" – unfruchtbar. So sagt es das Küstenmuseum, als
stiller Chronograph der kleinen keilförmigen Nordseeinsel.
Eine Klassenkameradin von mir hat
angekündigt, dass, wenn ich mit der Insel fertig bin, sie in "Wüst"
ungetauft werden muss. Keine Ahnung wie sie zu dem Schluss kam, aber
als ich dann das erste Mal über die massiven Dünen auf den Strand
getreten bin, wusste ich, dass ich nicht der erste sprachbegeisterte
Schelm war, dem dieses Wortspiel in den Ohren klingelte.
Bevor ich weiter in der Erzählung rumruder ein Hinweis: Die Erzählung ist nur Rahmen für die vielen Amateurfotos, die ich im Urlaub gemacht habe. Seit einer Einweisung durch einen Fotoexperten unseres Vertrauens, habe ich mehr Freude am Fotografieren bekommen und zwei bis drei Fachbegriffe aufgeschnappt, die nützlich sind, wenn es nicht so aussehen soll, als wäre es mit dem Fuss gemalt. Mit Vier bis Fünf Fachbegriffen und etwas besserem Equipment als meinem Nokia-Smartphone wäre vielleicht noch etwas mehr drin gewesen. Aber so sind sie die Seeräuber: Es wird benutzt was da ist und geträumt von größerem.
Es ist nicht das Juister Gold, aber der
Strand ist – in der Metapher gedacht – mindestens die
Schatzkarte. Zwischen den bewachsenen Dünen und dem erbarmungslosen
Eisklotz von Nordsee erstrecken sich mehrere Meter Sand. So gerne ich
da weitere farbenfrohe Adjektive ankleben würde, es geht nicht. Sand
ist Sand – Na na na na na. Flach und so sauber, dass an einem Tag
mit fast okayem Wetter eine Sonnebrille Pflicht ist, weil der
Untergrund so stark reflektiert. Eine wahrhaftige Wüste habe ich in
meinem Leben noch nie betreten, aber genau so stelle ich es mir vor.
Etwas trockener und weniger Touristen mit Hund, aber sonst: genau
so! Besonders am Westende der Insel, der so genannten Bill, gibt es
einen Muschelstrand, auf dem die Zeit als feiner Sand an den eigenen
Füßen vorbei vom Wind ins Meer getragen wird. Jedes Gefühl für
Entfernung verschwimmt mit dem Flackern der Sonne auf dem Sand oder
den flachen Wellen des Meeres, die hier nicht mehr zu unterscheiden
sind.
Die Insel profitiert von der starken
Nachhaltigkeitspolitik, ich glaube die Gemeinde Juist hat da 2015
und/oder 2016 auch einen Preis gewonnen. Irgendwie sowas stand im
Juister Strandlooper (friesisch für "Läufer"), einer Art
"Was bisher geschah" in Broschürenform, natürlich für
Touristen. Keine Autos auf der Insel, nur für die wichtigen
Einrichtungen: Arzt, Feuerwehr, Post. Und letztere fährt mit
umgebauten Flughafengepäckwagen mit Elektromotor. Die Polizei ist
übrigens keine wichtige Einrichtung, diese Ein-Mensch-Eingreiftruppe
fährt Fahrrad wie alle gescheiten Leute auf Juist.
Ich bin kein Fahrrad gefahren. Meine
Freundin hat mir noch vorher gesagt: "Pack Geld fürs Fahrrad
ein.", Ich habe gesagt, dass ich nicht dumm bin und dann habe
ich kein Geld fürs Fahrrad eingepackt und vor Ort mit voller stolzer
Brust behauptet, sie hätte nie was von Fahrradgeld gesagt. Ich bin
vielleicht nicht dumm, aber schlau geht auch ganz ganz anders.
Zu Fuß ist es halt sportlicher. Was
sollte ich jetzt auch anderes behaupten? Mir blieb ja keiner andere
Wahl. Aber die nahm ich gerne an. So machte ich in einer
lohnenswerten Tour, die von erfahrenderen Juist-Tousristen als
"Gewaltmarsch" den Bogen vom Seeferienheim - relativ mittig
gelegen - bis an das Ostende zum Flugplatz und wieder zurück über
den Strand. An einem Vormittag. Ich war ja auch kein Tourist. Es war
mir ein Bedürfnis die Insel zu erobern und "frei zu spielen".
Keine Ahnung, wie andere Menschen das
machen, aber wenn ich an einem neuen Ort bin, dann muss ich mich
dringend mit Vorsatz Verlaufen. Nur so kommt ich an diese Plätze, in
die noch nicht jeder sein Fähnchen gesteckt hat. Ich danke dem
Schicksal für die gute Mischung aus Neugier und fehlender Vorsicht,
gepaart mit nötiger Rücksicht. Wer ins Vogelbrutgebiet läuft,
trotz eindringlichem Warnschild, ist kein toller Eroberer, sondern
ein Arsch. Da können die Selfies mit Nordeney im Hintergrund nachher
noch so spektakulär sein, das sind sie nicht wert.
Wenn mensch hier oben so den Kontrast
zur ebenfalls liebenswerten Ruhrgebietsstadt zu sehen und spüren
bekommt, dann kann ich einen minimalen Funken sowas wie Stolz und
(Lokal-)Patriotismus verstehen. Nicht wegen diesem ganzen Quatsch mit
irgendwelchen Landesgrenzen, sondern weil es hier Menschen gibt, die
Natur erhalten und schützen, es spürbar machen und teilen. Das ist
Kultur und Identität, die ich nachvollziehen kann und mir wünsche,
dass sie erhalten wird. Liebe Menschen auf Juist: Macht weiter, eure
Mühe lohnt und wird anerkannt!
Als ich irgendwann aufgegeben habe, so zu tun, als wäre ich in irgendeinem Prozentanteil heimisch im Norden, wollte ich mich trotzdem vom gemeinen Tourist abgrenzen. Und im Rahmen eines gepflegten "Kenne den Feind", habe ich aus vielen Gesprächen heraushören können, dass der gemeine Juist-Tourist sehr häufig sehr häuig nach Juist fährt. "Wie in den letzten Jahren" und weitere Vergleich mit vergangenen Besuchen gelten als schickliche Eröffnungsphrase im Gäste-Fach-Jargon.
Jetzt würde ich gerne eine kluge
Überleitung schreiben, zu der Besonderheit des "ersten Males"
oder all diesen schönen Gefühlen, die Urlaub in uns Menschen weckt,
aber erstens fällt mir kein toller Bogen ein, der mir dann erlaubt
einfach noch meine Juister "Gold"-Momente in Fotoform an zu
heften. Zweitens bin ich miserabel in Urlaub machen. Entspannen
entspannt mich nicht, rumsitzen macht mich kirre und in überfüllte
Teehäuser gehen, weil es da diesen Rosinenstuten gibt, den es nur
hier gibt, tut nicht nur nichts für mich, sondern lässt das
Ablaufen meiner Lebenszeit für mich spürbar werden. Wer echten
Urlaub mit mir machen will, kann seine angesammelte Energie darauf
verwenden, sich nicht über mich zu ärgern.
Würde mensch mich fragen, würde ich
empfehlen mit lieben Menschen nach Juist zu fahren und dann den
ganzen Tag alleine über diese wunderschöne Insel zu stromern. "Jays
Reiseführer für Eremiten und Pseudo-Einheimische", würde
raten Menschenmassen über einer Person dringend zu meiden. Abends
dann dürfen die Erlebnisse, Fotos, gefundene Schätze und damit auch
Impulse für neue Abenteuer zusammengelegt und besprochen werden.
Es gibt Schätze auf Juist, sei die
Insel noch so "unfruchtbar". Die Insel ist dankbar, für
jeden, der nur einen minimalen Energieeinsatz bringt. Ich brauchte
mich nur ein einziges Mal morgens um Sechs selbst aus dem Bett
schubsen, um die folgenden Fotos machen zu können.
Mein persönliches Juister "Gold".
Als ich den Sonnenaufgang sah, stand fest, dass ich diesen Beitrag
schreiben werde. Und es musste um Gold gehen, egal wie abgedroschen
das für Sonnenauf- und Untergänge sein mag. Es war, als würde für
mich alleine die Schatzkammer geöffnet – es war außer mir niemand
an der Strandwüste zu erkennen – Denn während vor mir die Sonne
aufging, nieselte es hinter mir gerade genug, dass sich ein
Regenbogen im vollen Bogen über Dünen und Meer ausschüttete.
Sonnenaufgang mit Meer und Regenbogen? Win-Win-Win-Situation, sag ich
mal.
Was will der Autor uns mit diesem
Beitrag sagen, der in anderen professionalisierten Blogs als
gesponsorter Beitrag der Kurverwaltung eingestellt würde? "Fahrt
nach Juist!"? Nein. "Hey, schaut mal was für ein krasser
Typ ich bin, dass ich mit einem Telefon so Fotos machen kann."?
Nicht hauptsächlich.
Liebe Menschen, erobert zart und lasst
euch begeistern. Die Welt hat da draußen jede Menge Schätze
versteckt, die nur mit bloßem Auge zu finden sind, wenn ihr sie
aufmacht. Du kannst eine Niete in Urlaubmachen sein, aber solange du
etwas offen für die Architektur des Lebens bist, kann dir echt nicht
passieren. Und vergiss das Fahrradgeld nicht.
PS: Wer sich jetzt um die Piraterei betrogen fühlt, dem oder der sei gesagt, dass ich mit Hilfe meiner fragwürdigen moralischen Standards in einer recht unspektakulären Aktion ein Fritz-Cola-Glas aus einem der Touri-Cafes geklaut habe.
Spannungshöhepunkt war vermutlich der
stille Panikausbruch meiner moralisch rechtschaffenen Freundin, die
so etwas niemals im Leben getan hätte. Bitte schön Juist, ich bin
zwar kein Einheimischer, aber ihr habt jetzt eine wenig aufregende
Seeräubergeschichte. (Ich bin mit einem Schiff an- und abgereist,
das zählt auch!) Und aufregend würde ja auch nicht zu dir passen.
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