Die goldene Waage

Wenn ich in meinem Leben noch irgendwann eine Kneipe eröffne, dann wird sie wohl "Zur goldenen Waage" heißen. Ich nehme mich nicht als einen besonders präzisen Menschen war. Ich messe bei Kochrezepten nicht deutlich ab und bei mir gehen Beiträge trotz Korrekturlesens auch oft nochmal mit einem Vertippsler oder kleineren Grammatikfehlern raus. Trotzdem wurde mir mal die Goldwaage aus der Redewendung bescheinigt. Entweder von jemand anderem oder mir selbst, das weiß ich nicht mehr genau. Wie gesagt, ich habe es eigentlich gar nicht so sehr mit Präzision.

"Jedes Wort auf die Goldwaage legen" ist eine Redensart, die wohl ursprünglich wirklich von einer Goldwaage kommt. Diese gilt als besonders fein und erkennt, wenn richtig verwendet, auch die kleinsten Unterschiede im Gewicht. Luther hat das wohl in seiner Übersetzung der Bibel formuliert. Er wollte damit vermutlich ausdrücken, dass Menschen mit guter Achtsamkeit ihre Worte wählen sollten. Als es mir gegenüber formuliert wurde, wollte - wer auch immer es gesagt hat - damit ausdrücken, dass ich nerve. Weil ich alles "zu ernst nehme". Weil immer und jedes Wort wirklich genau zu vermessen, das kostet Zeit und ist anstrengend. Und zwingt halt auch dazu, Sprache ständig zu reflektieren. Und was auf dem Papier und Computer ganz gut geht, ist im Alltag höllisch unpraktisch.

Vor einigen Jahren, da habe ich eine Sendung über Ernährung und Körpergewicht im WDR gesehen. Es ging in einer Folge um Snacks und ihre Inhaltsstoffe. Die Teilnehmer*innen der Sendung hatten die Aufgabe ihren liebsten Snack mitzubringen, egal wie gesund oder ungesund er war. Dann sollten sie ihn essen. Allerdings war die Regel, dass sie den Snack mindestens 30 Sekunden im Mund behalten sollten, ohne ihn zu kauen. Es sollte nur der Speichel die Nahrung zersetzen, was ja nunmal auch sein Job ist. Dadurch kommen alle Geschmäcker und Inhaltsstoffe deutlicher durch, als wenn wir Sachen kauen und direkt runterschlucken. Zu meiner damaligen Überraschung, spuckten fast alle Teilnehmenden ihren liebsten Snack wieder aus, noch bevor die Zeit vorbei war. Das erachtete ich als gestellte Fernsehdramaturgie, wollte das nicht glauben, weil ich meine liebsten Snacks schon auch gerne mochte und probierte es selbst aus. Nunja. Ich glaube seit dem Experiment damals habe ich einige Sachen wirklich nie wieder gegessen.

Wenn wir Dinge in ihre Bestandteile zersetzen, kommen wir an neue Informationen. Und gerade bei Sprache ist das spannend, weil da ähnlich wie beim Geschmack den wir bevorzugen, ganz ganz viel im Unbewussten in uns passiert. Sprache prägt unser Denken, ähnlich wie Ernährung unsere Gesundheit prägt. Sprache prägt aber auch unsere Verbindungen. Und sie ist halt ein massiver Teil unserer Alltags. Besonders jetzt, wo wir zu vielen Redeanlässen auch noch konstant schriftlich mit unserem Umfeld in Kontakt stehen. "Besonders jetzt", ja Leute, ich bin eine ältere Generation. Ich erinnere mich dunkel daran, gar kein Handy zu haben. So oder so: Sprache ist ein Kern davon "Mensch" zu sein.

Ich habe damals die Erkentnisse aus dieser Sendung nicht auf meine Sprache angewendet, das passiert erst seit neustem, weil neue Menschen in meinem Leben aufgetaucht sind, welche meine Goldwaage in die Verzweiflung und Wut treibt. Auch, weil das Gefühl aufkommt, sie würden "falsch" kommunizieren. Das möchte ich natürlich nicht. Der Konflikt ist aber, dass ich meine Goldwaage leider nicht abschalten kann. Sie ist ein Teil von mir. Und wenn ich Wortr aufnehme und meine Goldwaage mir aber mitteilt, dass gerade noch unklar ist, was gemeint ist, dann habe ich Angst "falsch" zu kommunizieren. Selbst wenn ich mir dann nur etwas falsch merken würde. Nicht vergessen: Zuhören ist auch ein aktiver Teil von Kommunikation. Also muss ich nicht die Goldwaage abschaffen, sondern Tools finden, die mir und meiner Gegenseite helfen störungsfrei reden zu können. (Spoiler: gute Fragen sind der Hit.)

Wenn ich im Blog etwas teile, hoffe ich auch immer, dass das Impuls, Anstoß oder ein Tool für andere Menschen und Kreative sein kann. Was bei mir Identität ist, kann trotzdem natürlich imitiert werden. Nicht, weil ich besonders toll wäre, sondern weil mir Menschen auch rückmelden, dass nach der Wut über meine Genauigkeit oft eine Reflektion und Erkentnis folgen, die dann eine Veränderung der eigenen Sprach bewirken. Präzision und klare Kommunikation können also ansteckend sein. Und egal ob im Alltag oder auf einer Bühne: Wenn nicht ankommt, was wir wirklich meinen, ist das nicht gtu für uns.Wie also selbst eine nützliche Goldwaage entwerfen?

Nehmt euch etwas Sprache, die von Außen an euch getragen wurde und schaut euch die Wörter einzeln an. Wenn ihr die Zeit aufwenden wollt, definiert die Worte. Lasst sie mindestens X Sekunden in eurem Kopf oder auf einem Blatt Papier. Sollen die Synapsen sie zersetzen! Ganz wichtig: Wir suchen nicht nach Bewertungen wie "gut" oder "schlecht", sondern nach den Bausteinen. Wie wir das Gesagte / Geschriebene finden, können wir besser bewerten, wenn wir es voll erfasst haben. Weil die Leute, die ihre Snacks nur kurz gekaut haben, dachten auch, sie wären richtig lecker. Bis sie sie genauer zersetzt haben. Schaut euch auch eure eigene Sprache an. Wenn ich XYZ sage, was meine ich damit eigentlich genau? Weiß die andere Person mit der ich kommuniziere, was ich damit genau meine? Meinen mein Unterbewusstsein und mein Bewusstsein verschiedenes?

Ein Beispiel dafür von mir selbst: Ich habe die Goldwaage bescheinigt bekommen. Also dachte ich, okay, ich nehme Dinge zu ernst. Was ich wild finde wenn ich in diesem Moment darauf blicke, weil mir auch vorgeworfen werden kann, dass ich nichts so richtig ernst nehme. Aber über die Zeit ist mir aufgefallen, dass ich, wenn ich es benenne, sage, dass ich eine "Goldwaage im Ohr habe". Dabei habe ich mir nichts bewusstes gedacht, aber dann gemerkt, dass das Ohr natürlich nur der "Posteingang" ist. Und so passen gefühlte Widersprüche dann zusammen. Während ich nämlich bei eingehender Sprache sehr präzise und genau bin, bin ich bei ausgehender Sprache nicht genauso präzise*. Und so wird es natürlich nicht nur mir gehen. Aber solche Dinge über sich zu wissen, das ist gut und gesund. Es ist sowohl der Startpunkt, wenn mensch sich verändern möchte, aber auch sich akzeptieren möchte. Mit Hilfe anderer Tools versuche ich jetzt auch zunehmend darauf zu achten, dass auch meine Sprache nach Außen präzise(r) wird.

Ja. Schöne Grüße aus meinem Kopf. Was ist bei euch so los?

*So ist mir zum Beispiel erst beim Korrekturlesen aufgefallen, dass der Titel dieses Postings und der Name der Pseudo-Kneipe quatsch sind. Denn die Waage ist nicht aus Gold, sondern für Gold.

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