Ideendämmerung: Partner im Verbrechen
„Du wirst die richtigen Entscheidungen treffen.“
Rostgeschwängerte Stahlträger mit Zierschrauben begehrten aus dem Boden auf, abgedeckt mit einem weiteren Stahlträger als Überdachung. Eingerahmt in feinstem Industriebarock lag dort im Kühlhaus der örtlichen Metzgerei eine unendlich schwere Tür in fettigglänzendem Stahl, auf dem sich zauberhaft Oxidationsregenbögen in der Sonne spiegelten. Wie diese „Türen“ und „Grenzen“ funktionierten, von denen Marius mir erzählt hatte, dass war mir immer noch nicht offensichtlich, aber der Ausstrahlung, die von ihnen ausgeht, konnte ich nun wirklich nicht widerstehen. Vollkommen zu recht, denn wenn jemand vor dir eine Tür zu einem Kühlhaus öffnet, dein Kopf schon Fleischgeruch und – Optik skizziert, dann aber enttäuscht und überrascht wird, das ist was ganz eigenes.
Viele Menschen in meiner Situation hätten eine Gänsehaut bekommen, aber ich war so überwältigt, von dem Blick auf einen Ort, auf eine Stadt, die scheinbar in diesem Kühlhaus liegen sollte, dass in diesem Fall eher eine Gänsehaut mich bekam. Wir blickten durch den Industrietürrahmen auf eine Hauptstraße mit vorbeifahrenden Autos, Passanten die vorüber gingen und allem ,was eine echte Großstadt im Ruhrgebiet brauchte.
„Beim ersten Mal ging es mir auch so. Ich dachte, die Zeit bliebe stehen.“, sagte Marius und holte mich so ein wenig weiter zurück in das zurück, was ich jetzt also „Realität“ nannte. Dass mein Kopf gerade eindeutig das Ruhrgebiet identifizieren konnte registrierte ich gar nicht wirklich, denn ich spürte etwas anderes in meinem Kopf. Etwas ganz ungewöhnliches und neues. Ich spürte, wie mein Wissen über „Raum“, „Türen“ und „Grenzen“ überschrieben wurde. Die Frage, warum mein Gedächtnis bisher ebendiese Dinge so nicht kannte, die drängte sich mir nur halb auf, denn zu viele Konzepte und Überlegungen schossen mir gleichzeitig in den Kopf. Ich wusste urplötzlich wieder alles ,was ich jemals über Computer und Autos wusste, ich erinnerte mich daran mal eine Wohnung irgendwo gehabt zu haben und aus einem mir unerklärlichen Grund wusste ich, dass auf meinem Schlafanzug „zu Hause“ bunte Doppeldeckerflugzeuge waren.
„Ich glaube nicht, dass es dir genau so ging.“, seufzte ich heraus „Die Zeit ist für mich gerade nicht stehen geblieben, sondern zurück gekommen.“ Und es war toll das sagen zu können. „Alles? Du erinnerst dich an alles? Deinen Namen?“, fragte Marius aufgeregt und es war nicht toll nichts sagen zu können. Ich schüttelte nur enttäuscht den Kopf: „Nur Unzusammenhängendes.“ Marius machte einen „Besser als nichts?“ -Blick und eine „Auf geht es!“ –Geste, in Richtung der Stadt hinter der Tür. „Es wird Zeit.“, sagte er nur.
Ziegler war schon länger nicht mehr da. Irgendwo zwischen schattenhaftem Industriebarock und mittelalterlicher Schlossarchitektur traf sich die Halle der Charaktere und lief in anstrengendem Licht umher. Plaine und der Nachtwind warteten auf die Rückkehr ihres Spions. Sprichwörtlich hieß es oft, ein kleines Vögelein hätte einem etwas gezwitschert, beim Nachtwind war es tatsächlich so. Die Geschichte, wie er und das Vögelein sich kennen gelernt hatten, die hatte er nie erzählt. Warum keiner außer ihm mit dem Vögelein sprechen konnte, dass hatte er auch nie erzählt, aber Plaine schrieb dem Nachtwind schon immer kleinere magische Fähigkeiten zu, also konnte er bestimmt mit Tieren sprechen. Wann immer man die Stimme des Nachtwind hörte, so war sie nie laut. Er konnte durch einen Raum nach dir rufen, gehört hast du trotzdem nur ein warmes Wispern.
Plaine schüttelte den Kopf in den Raum hinein, so dass der Nachtwind mit seiner besorgten Art gar nicht umher kam zu fragen: „Was bedrückt dich, mein Freund?“ – „Ignis ist gestorben, Ziegler verletzt, der Uhrwerkjunge verschwunden. Es ereignen sich über alle Grenzen hinaus seltsame Dinge zur Zeit.“ – „Das stimmt.“ – „Weißt du, hinter meiner Grenze, im Land der Magier und Drachen, da gibt jeder unterklassige Zweigroschenzauberer eine Prognose über den Weltuntergang ab. Über Götterdämmerung und Feuermeer. Ich glaube diesen Spinnern eigentlich kein Wort, aber jetzt komme ich doch langsam ins Denken. Was wenn hier etwas größeres auf uns zu kommt?“ – „Du wirst die richtigen Entscheidungen treffen.“ Plaine lachte plötzlich laut auf und aller Zweifel war verflogen: „Das wäre mal etwas neues!“
„An der nächsten Kreuzung auf 3 Uhr.“, gab Marius mir als Anweisung, der mit einem zackigen Schritt vorweg ging. Ich war zu verwundert über unsere Reise, um mich zu orientieren oder Fragen zu stellen. Möglichst dicht lief ich hinter Marius und falls ich mich mal erstaunt umsah, so blieb mir immer noch das Ticken als Indiz.
Dieses „Essen“ in dem wir waren, glänzend mit einem dämlichen Städtenamen, war für mich ein sonderbarer Ort. Obwohl ich mich nicht eine Heimat erinnerte, fühlte ich mich hier doch irgendwie heimisch. In meiner Gedächtnisbibliothek war darüber kein Eintrag zu finden, ob und wo ich denn meine/eine Heimat hatte. Als ich versuchte Neuersheim und Essen in einen räumlichen Zusammenhang zu bringen, da scheiterte ich schwungvoll. Nicht nur, dass das überschreiten dieser „Grenze“ durch die Tür im Kühlhaus jedem geografischen Gegebenheit widersprach, so fiel mir einfach kein Land ein, in dem wir uns befinden könnten.
„Wir haben die ganze Zeit etwas vergessen.“, weckte Marius mich aus meiner Geografiestunde „ich weiß zwar wo Ignis wohnt, aber ohne seinen Schlüssel kommen wir gar nicht in seine Wohnung.“ – „Und was machen wir jetzt?“ Marius griff ein kleines Kästchen aus seiner Jacke und sein Uhrwerk setzte kam kurz aus dem Takt. „Keine meiner Fertigkeiten auf die ich stolz bin, aber wessen Lebenszeit sich über Zahnräder definiert, der lernt schnell den Umgang mit Zähnen, Kolben und kleinen Bolzen.“, rechtfertigte er sein Uhrenwerkzeug inklusive Dietrich.
Hier stand ich also in einer kleinen Nebenstraße irgendwo in Essen und achtete, dass uns keiner erwischte. Marius schraubte ein wenig in dem Schloss herum und meckerte vor sich hin: „Das dauert länger als gedacht.“
Ich kam mir vor, als würde ich mich selbst in einem Bild von unserem kleinen Verbrechen sehen können. Ein Aquarell, in dem um uns herum jede Farbe verläuft, aber unser Einbruch, unsere Partnerschaft im Verbrechen, die erkennt man ganz eindeutig.
„Es ist offen. Jetzt müssen wir nur noch oben die Tür knacken.“ Ich wollte gerade anfangen über Hausflure nach zu denken, als Gleiter. Es war wie beim Gleiter. Die Erkenntnis schlug so heftig auf mich ein, dass ich im Hausflur zusammen sackte. Marius bemerkte es nicht. Ich war schon öfters an diesem Ort, als ich jung war. Wer auch immer ich war, ich war hier. Ich konnte mich nicht sehen in der Erinnerung, aber ich konnte jedes einzelne Mal sehen, in dem ich durch dieses Treppenhaus gelaufen bin.
Sollte ich hier etwa gewohnt haben? Ich musste die Augen offen halten.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Anmerkungen? Fragen? Wünsche? Schreib gerne einen Kommentar. Ich schaue regelmäßig rein, moderiere die Kommentare aber auch, also bleibt nett.