Mit anderen Augen - Teil 5

Niklas.
Sitz im Kinderwagen und beobachtet seine Mutter, Jenny. In Sarahs Küche. Wo sie nicht sein sollte.

"Danke, dass sie sich mit mir treffen. Das ist alles andere als selbstverständlich." Mama, traurig, realisierte Niklas, aber Herr Schmidt verstand auch was sie sagte und nicht nur wie. "Meine Kinder haben von dir erzählt. Ist es okay wenn wir uns Du-zen?", sagte Sarah, die schon fast irgendwie überlegen wirkte, aber Niklas und Herr Schmidt wussten genau, dass auch sie nicht glücklich war. Lukas hatte es wohl von Sarah geerbt sich die Lippe zu zerbeißen, wenn er Stress unterdrückte, denn auch ihre Lippen bluteten leicht.
Jenny sah vollkommen zerstört aus. Niklas Blick für seine Mutter schönte zwar einiges, aber Herr Schmidt erkannt nicht mehr viel von ihrer Jugendlichkeit. Eher sah sie verbraucht aus.
"Ich weiß nicht zu wem ich gehen soll.", bescheinigte Jenny ganz kurz, dann wischte sie sich Tränen mit dem Ärmel weg. Sarah setzte sich zu ihr auf die alte Eckbank und zeigte Verständnis. "Keine Sorge, Jennifer, es ist okay, dass du zu mir gekommen bist." Jenny blickte überrascht auf: "Und das obwohl Adrian mit mir zusammen ist.....war?" - "Ich hatte lange Zeit mich daran zu gewöhnen, dass Adrian mir nicht mehr treu war und auch genug Zeit mich daran zu gewöhnen, dass er sich halt für eine Jüngere entschieden hat. Ich hätte eher Grund auf ihn wütend zu sein, als auf dich." Jenny schwieg dazu.
Niklas, dem irgendwie nicht ganz wohl war in seinem Kinderwagen, begann auf den Rändern seiner Sitzschale herum zu klopfen.

Jenny nippte an ihrem Tee und genoß scheinbar gerade einfach bei einem Menschen zu sein. Sarah beobachtete Jenny ein Weilchen, bevor sie fragte: "Weshalb wolltest du denn nun zu mir?" - "Wie ich schon sagte, ich weiß nicht zu wem ich gehen soll. Für mich ist das alles zu viel. Adrians Tod hat nicht nur in mein Herz ein riesiges Loch gerissen, ich merke jetzt auch, wie vieles mit ihm leichter war." Herr Schmidt erkannte genau, dass Sarah sich eine schnippische Anmerkung verkniff, die nur zur Ablenkung von ihrer eigenen Trauer gedient hätte. Aus Respekt vor Jenny sparte sie sich aber jeden Kommentar und griff ihre Hand um ihr zu deuten fortzufahren.
"Siehst du Sarah, ich habe Niklas, die Arbeit und muss auch irgendwie die Uni schaffen. Meine Eltern unterstützen mich nicht mehr, sie reden nicht mal mehr mit mir.", Jenny sammelte sich kurz über diesen Punkt, aber Herr Schmidt war damit beschäftigt sich zu wundern, seit wann Jenny wohl studierte. Er wusste nichts davon, aber in Erinnerung an seine Befragung mit dem seltsamen Kommissar, fiel ihm ein, dass er ja auch bei Jennys Alter scheinbar schlecht informiert war. Sarah vollendete Jennys Gedanken: "Weil du als Minderjährige ein Kind bekommen hast?" Jenny nickte bloß, Herr Schmidt versuchte einen Kopf zu schütteln, da selbst Sarah Bescheid wusste, aber Niklas war mit verspieltem Geklopfe beschäftigt. Das beruhigte sich auch erst, als Jenny ihn zu sich in den Arm nahm.
Mit dem Kopf an Jennys Brust gelehnt, beruhigten sich Herr Schmidt und Niklas vorläufig, beide aus niederen Bedürfnissen heraus.
"Jetzt wo Adrian weg ist," Jenny schluckte spürbar erneut ihre Trauer runter, "weiß ich nicht wirklich, wo ich ansetzen soll." In Sarah lebte weniger die Rivalin auf, als viel mehr die Mutter, die in Jenny nicht ihre, aber zu mindest eine Tochter sah, die dringend einer Mutter bedürfte. Doch bevor Sarah etwas sagen konnte, stellte Jenny mit festem Blick eine wichtige Frage: "Was ist jetzt zum Beispiel mit Adrians Sachen?" Sarah wurde schlagartig bewußt, dass diese ganzen Probleme, die Jenny hatte, auch irgendwie ihre Probleme waren. "Weißt du Sarah, ich komme nicht an seine Sachen, da wir nicht verheiratet waren." Sarah, die sich gerade überlegte, wie sie die ganzen schmerzhaften und schönen Erinnerungen aus seiner Wohnung wieder einsammelte, stolperte über den Gedanken und Jennys Satz: "Bitte, was?" - "Versteh mich nicht falsch, Adrians Verlust schmerzt mich sehr, aber nichts wird ihn zurückholen. Was ihn für mich etwas zurückholen könnte wäre, wenn ich noch einige Andenken aus seiner Wohnung retten könnte." Sarah war vollkommen irritiert. Sowohl sie, als auch Herr Schmidt spürten, dass das wirklich Jennys Meinung war und sie nicht auf irgendein Erbe heiß war. "Und da können wir nichts machen?" - "Ich bin mir nicht sicher."
Niklas langweilte dieses ganze Erwachsenengerede und eine wohlige heimatliche Ohnmacht verbreitete sich in ihm. Herr Schmidt versuchte Niklas wach zu halten und zu schütteln.
"Wir können nichts von unserem Adrian retten?" Es war, als hätten Jenny und Sarah die Körper getauscht. Jenny wirkte plötzlich reif und erwachsen, Sarah verliebt und verzweifelt. "Nichts außer einem Grab wird von unserem Adrian bleiben?", beginn sie zu fiepen, was Niklas kurz aufschrecken lies. Jenny aber hob ihn kurz an und setzte ihn wieder in seinen Kinderwagen. Dann setzte sie sich zu Sarah, die in Tränen ausgebrochen war und legte ihren Arm schützend um sie. Jenny wollte gerade ansetzen, doch brach der Frust aus Sarah aus: "Er hat uns nichts gelassen? Kein Foto, kein Geld, keine Erinnerung? Alles nimmt er mit ins Grab und vertieft diesen Abgrund in mir? Er hatte mir damals zum ersten und einzigen Mal ein Gefühl des Geliebtseins gegeben und jetzt nimmt er mir alles?" Doch Jenny griff feste Sarahs Hand und stoppte sie: "Er hat uns die Kinder gelassen." Sarahs Weinen stockte, doch Niklas Augen fielen zu.

Herr Schmidt fühlte die dunkle Leere die ihn umgab sehr deutlich in seinem Inneren. Die Grenzen seines Körpers waren aufgelöst, so dass sein gesammeltes Schuldgefühl den Raum ausfüllte. Er glaubte Kälte zu fühlen, konnte aber nicht erkennen, ob sie um ihn oder in ihm den Ursprung fand. Von ganzem Herzen versuchte er zu weinen, zu schluchzen, aber sein Körper versagte ihm den Dienst. Jetzt entsprach dieses Jenseits viel eher seiner Vorstellung, doch hatte er nie solche Träume erwartet.
Die Reise durch die Blickwinkel seiner Kinder hatte ihn ermattet. Seine Gedanken fühlten sich stumpf und einfach an. Der Versuch eines schwierigen ausformulierten Gedanken schien ihm aber auch unnötig.
Der Kommissar und die junge Frau erschienen Herr Schmidt vor seinem geistigen Auge. Beide schauten ihn fragend an. "Erinnerst du dich nun wo du herkommst?", fragten beide in einer Stimme, die sich wohlig um ihn legte. Und tatsächlich erinnerte sich Herr Schmidt:
"Das gute Leben von dem mein Vater immer sprach, ich habe es falsch verstanden, oder? Es ging nie um Besitz, es ging nie um Status?" Doch keiner der Beiden antwortete. "Doch was kommt jetzt? Der Himmel, die Hölle?" Der Kommissar und die junge Frau vom Anfang dieser Reise schienen Herrn Schmidt zu umarmen.
"Das lag ganz an dir. So wie wir das Leben unseres Sohnes nach unserem Tod mit seinen Augen sahen, wirst du das Leben deiner Kinder mit Ihren Augen sehen. Vielleicht wird es eine reinigende Wirkung für dich haben, vielleicht auch eine versöhnende, vielleicht eine erklärende. Das liegt ganz in deinen Händen. So oder so, wir werden dich erwarten Adrian. Wir hoffen auf dein Verzeihen, auf dein Verstädnis."
Und dann erfüllte Adrian wieder diese Dunkelheit. Die schützende Umarmung seiner Eltern verlassend, öffnete er die Augen.
Er sah das Leben, mit anderen Augen.

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