Kleine Nadeln

Einer der zauberhaftesten Defekte, die man als Mensch so haben kann, ist die Fehlstellung eines Schalters im Kopf. Er ist in einem komplexen Relais eingelassen, das ich an dieser Stelle mal erklären möchte.
Das Relais löst aus, wenn eine Idee für eine Handlung das Nervensystem betritt. Im ersten Schritt, wird nun definiert ob diese Idee eine Gute ist (zur Verdeutlichung: "Es ist 22 Uhr, ich muss morgen um 5:30 aufstehen. Um ausreichend Schlaf zu bekommen sollte ich ins Bett gehen.") oder eine Dumme (zur Verdeutlichung: "Es ist 22 Uhr, ich muss um 5:30 aufstehen, wenn ich bis zur Ohnmacht wach bleibe, schlafe ich viel tiefer und verbrauche weniger Zeit im Bett.").
Der Fall in dem eine gute Idee eingeht, den ignorieren wir in dieser Betrachtung. Gehen wir also davon aus, eine dumme Idee geht ein.
Im nachfolgenden Schritt gibt es also den Schalter, der unmittelbar an die Vernunft gekoppelt ist. Sein sollte. Nämlich die Entscheidung, ob man diese Idee auch durchführt. Wenn der Schalter auf ein "Nein" fällt, wird die Idee kommentarlos verworfen und landet maximal noch in Ablage "K" wie Kurzzeitgedächtnis. Dort wird die Idee möglicherweise zu einer Guten korrigiert oder kommt manchmal als noch schlimmere zurück.
Jetzt gibt es aber diese Situationen, in denen die Vernunft mal gerade Mittach hat. Alkohol ist da ein gern genannter Verdächtiger, manche Menschen neigen aber auch einfach dazu, die Neugierde als Urlaubsvertretung für die Vernunft zu bestimmen.
Die Neugierde, die sich nie wirklich zuständig fühlt für ihre Handlungen und eh eine äußerst kurze Aufmerksamkeitsspanne hat, winkt dann schon mal schneller die dummen Ideen durch.

Kurze Zusammenfassung: Neugierige Menschen sind vermutlich eher bereit schön blöde Dinge zu tun.
Als Referenzmaterial verweise ich auf diverse Horrorfilmprotagonisten, die automatisch zum gruseligen Geräusch hin laufen und nicht weg.
Bei manchen Menschen steht dieser Schalter möglicherweise aber immer auf Akzeptieren. Tendenziell arbeitet da eine Vernunft, die schon länger gekündigt hat und nun bis zum letzten Arbeitstag LMA-Mentalität zeigt.

Bis heute ist nicht bewiesen, ob folgender Vorfall bei mir den Schalter beschädigt hat, oder ob es das erste Indiz für einen defektes Ideenzusteuerungsrelais war, aber ich bin als kleines Kind aus dem Sprint gegen einen Schrank gerannt.
Faktenlage:
- Der Schrank ist nicht überraschend aufgetaucht, genauer war dieser Schrank zu dem Zeitpunkt schon länger Teil der Familie als ich. Und im Gegensatz zu mir konnte er immer still am selben Ort sitzen.
- Neben meinen Eltern, bezeugten auch meine Großeltern diesen Vorfall. Es ist also relativ ausgeschlossen, dass meine Eltern mich vor den Schrank gesprintet haben, ich war das schon ganz alleine. Nur, wenn auch schon meine Großeltern Teil einer großen Verschwörung gegen mich gewesen wären, würde das doch möglich sein. Ich erinnere mich leider nicht mehr an diesen Vorfall, vermutlich aufgrund der Erschütterung, die auch andere Folgeeffekte mit sich brachte.
- Ich war schon als Kind sehr schnell. Und ich meine nicht nur schnell müde, hungrig und nervig. Schnell. Vermutlich gab mein Vater mir deshalb früh den Spitznamen "Blitz" weil ich erst sehr schnell war und in diesem Fall hatte es ja auch ganz schön gedonnert.

Der Erzählung nach, kam ich wohl aus meinem Zimmer und wollte etwas sehr witziges erzählen, habe ich beim Rennen doch gelacht. (Zeichen frühen Irrsinns sind hier aber nicht ausgeschlossen) Dann bin ich um die Ecke gebogen, was nicht zwingend erforderlich war, um bei voller Begeisterung in massive Schwarzwälder Handwerkskunst zu scheppern. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass sich in meinem Gehirn oder wo auch immer dieses Relais liegt in etwa folgendes Gespräch abspielte:

"Das ist der beste Witz den ich mir je ausgedacht habe. Den muss ich meinen Eltern erzählen. Und zwar so schnell wie möglich, den mein junges Hirn hat noch nicht seine vollen Kapazitäten entwickeln können, so dass die zuständigen Bereiche für Erinnerung und Sprache noch nicht so weit ausgebildet sind, wie sie es bei einem Erwachsenen wären. Dass heißt, das meine Eltern sich für immer an den Witz erinnern werden."
"Hey Jan."
"Ja, Entscheidungsrelais?"
"Schau mal. Da steht ein Schrank."
"Ja, und?"
"Da könntest du doch mal vorlaufen."
"Aber warum?"
"Na, für die Wissenschaft."
"Für die Wissenschaft? Was wird denn damit erforscht?"
"Na, öhm, wie sicher Fussgänger bei einem Zusammenstoß mit einem Wohnzimmerschrank sind."
"Gibt es dazu nicht schon Studien?"
"Wollen wir das jetzt deine ganze geistige Zeitlupe lang diskutieren?"
"Ich weiß nicht. Ich glaube, mein Beitrag in der Dichtigkeitsprüfung von Holz wäre nicht so wertvoll."
"Ja, aber vielleicht wäre er es ja doch?"
BAMS.

Vor einigen Jahren, ich hatte deutlich an Reife gewonnen. Ich stand mitten im Leben, genauer genommen in der Mitte meines Lebens bisher, habe ich einen weiteren Diskussion mit dem Relais gehabt. Allerdings hatte ich ja zuvor so gute Erfahrungen gemacht, dass ich eher bereit war zu vertrauen. Man kannte sich nun ja auch länger.
Ich habe in einer Jugendherberge Matratzen von einem Ende des Hauses oben zum anderen Ende unten bringen sollen. Dabei habe ich in der zweiten Phase des Jobs - meine erste dumme Idee an diesem Tag war nämlich alle Matratzen erst bis ins Treppenhaus zu bringen - mit einem großen Stapel Matratzen vor einer abschüßigen Treppe wiedergefunden.
Man muss dazu sagen, dass es Winter war. Das hätte man im Text bisher nicht merken können, konnte man in diesem Jahr aber auch so nicht, denn es waren bestimmt immer noch Zwölf Grad draußen. An Schnee war nur zu denken.
Und das tat ich auch, schnappte mir, Entscheidungsrelais sei dank, eine Matratze und sprang mit ihr auf die Treppe, wissend, dass sie wie ein Schlitten die Stufen hinuntergleiten würde. Und das tat sie auch. Wie ein Schlitten, nur ohne mich.
Ich rollte vor der Matratze die Treppe hinunter, rieb dabei durchgehend mit dem Gesicht an der Pflastersteinwand entlang, um dann im großen Finale einen Flugkopfball an dem Topf einer anderthalb Meter großen Palme durch zu führen.
BAMS.

Ist aber nicht so schlimm, denn ein Jahr später, hatte ich im selben Haus die selbe Aufgabe. Das Schöne ist ja, dass man aus seinen Fehlern lernt. Und deshalb diesmal eine andere Treppe heruntersprang.
Ich sah nach der Landung aus, als müsste man nur noch eine Kreidezeichnung um mich ziehen, wie eine ordentliche amerikanische Filmleiche.
BAMS.

Ich bin schon in einen Abwassergraben gesprungen, bin in einen leeren Swimmingpool geklettert und nicht mehr raus gekommen, habe versucht barfuss eine Wespe zu zertreten, habe versucht die gesamte Kellertreppe meiner Oma hinunter zu springen, war mit einem angebissenen Finger im chlorigsten Schwimmbecken Dänemarks, bin nach einem Sprint auf Schnee mit dem Kopf in einen Metallmülleimer gedonnert, habe einen Abend vor einem Halbmarathon so viel Cocktails getrunken, dass selbst ein Taxi mich nicht mehr als Transportfähig befand und bin beim Fussball so in einen Gegner gelaufen, dass ich mir den kleinen Finger gebrochen habe.
Jedes mal hatte das Relais die Finger im Spiel, jedes mal hatte ich große Schmerzen. Jedes Mal habe ich gelacht.
Bei großen Fehlern, bei großen Katastrophen, da lache ich. Wenn ich mir schlimm wehtue, dann lache ich. Ich habe wenig geweint als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, ging es um Schmerzen. Ich bin kein harter Typ.
Denn kam der Doktor mit der Spritze, habe ich direkt geheult. Wenn mir einer meiner Ringe hinter das Sofa fällt, bin ich direkt fertig mit der Welt. Fällt mein Essen in den Dreck, gebe ich eine Trauerfeier.
Es sind die kleine Nadeln die schmerzen.

Kommentare

  1. Der "Story"einstieg erinnert mich stark an Junior im Möbelhaus.
    Da, Mama.
    Vollgas.
    Scheiße.
    Spiegelschrank.

    Er ist schräg gelaufen und scheint ein echt Tunnelblickfan zu sein.
    Irgendwann hat er auch wieder gelacht...

    Schönes Wochenende.

    Sollte nicht noch eine Geschichte mit Kaninchen und nicht gepackter Tasche kommen? *räusper*

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