Alle guten Geschichten wurden schon erzählt

Gerade eben war ich ein wenig spazieren. Den Kopf frei bekommen. 
In letzter Zeit gehen mir so viele Ideen durch den Kopf, so viele Pläne, so viele Absichten, dass ich kaum eine davon umgesetzt bekomme. Es ist ein absolutes Luxusproblem vor lauter Motivation blockiert zu sein, aber trotzdem ist es ein Problem. Spaziergänge sind üblicherweise mein Weg diese Dinge sortiert zu bekommen. Ich weiß nicht ob es an der frischen Luft, den Sonnenstrahlen oder einfach der Abwesenheit des Medienhaushaltes (mit Internet, Handy, Festnetz, Fernsehen, Radio, Spielkonsolen und so weiter) liegt, aber es fällt immer leichter Prioritäten zu setzen, wenn ich mich einmal von allem entferne.
Abgesehen von vielen Bereichen meines Lebens, in dem meine Prioritäten zwar gesetzt, aber noch nicht ganz ausgefüllt sind, ist mir gerade beim Schreiben die Ideen-/Informations-Verstopfung ein Fluch. Es ist für mich oftmals schwer zu entscheiden, welche Idee einen Text wert ist, welche noch "ruhen" muss oder sogar, wo ich mit meinem Geschriebenem hin will. Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder für meinen Blog. Ich bin vermutlich nicht besonders gut darin über mein persönliches Leben zu schreiben, was ja eigentlich wohl der Urgedanke des (We)bloggens war und ich weiß auch gar nicht ob ich das tun will und in welcher Form und und und.
Eine der größten Schwierigkeiten ist für mich dabei ein Gedanke, der sich immer wieder durch die Niederungen meiner Gedanken bewegt, wie eine Schlange. Dieser Gedanke zischt, faucht und ist zwischen all den anderen nicht sichtbar und greifbar; die Art seiner Gefahr kenne ich aber.
Dieser Gedanke lautet: "Alle guten Geschichten wurden schon erzählt." Bei jeder Idee, die mir in den Sinn kommt, steht mir die Befürchtung im Sinn, dass das mit Sicherheit schon jemand bedichtet, besungen oder davon erzählt hat. Kein Medienkritischer Hieb, keine Auslebung meiner persönlichen Interesse, noch meine Emo-esken Gedichte waren nicht so oder ähnlich schon einmal da. Je mehr man auch seine eigenen Subkulturen konsumiert, desto mehr wird man sich seine Unindividualität bewusst. 
"Alle guten Geschichten wurden schon erzählt." Natürlich erkennen auch andere, die nicht die selben Subkulturen mit mir teilen, dass es Elemente bei mir gibt, die schon anderswo aufgetaucht sind. Und ich selbst erstarre regelrecht in Erfurcht, wenn ich sehe wie Geschichten wie "Inception" von Christopher Nolan oder auch "Die Hydra" von Marc-Uwe Kling, oder noch viele andere in vielen verschiedenen Formaten, erzählt werden, dann wirkt das Gift von eben dieser Gedankenschlange.
Auf meinem Spaziergang ware ich auf ein Eibrot bei meinen Eltern abgestiegen, ein wenig auch die Wurzel meiner Erzähltechniken besuchen (das erkläre ich wann anders), um danach wieder den Weg in meine eigene Wohnung anzutreten. Von den vielen Überlegungen in meinem Kopf konnte ich mich auch dort nicht freimachen und so ging ich in meinen Gedanken versunken wieder zurück zu meiner Wohnung.
Der Mensch ist ja so sehr Gewohnheitstier (und ich bin nie aus meinem Heimatstadtteil weggezogen), dass man schon einen deutlichen Bruch in seinem gewohnten Umfeld platzieren muss, um ihn manchmal wieder in die bewusste Wahrnehmung zurück zu ziehen.
In meinem Fall war dieser Bruch eine Frau mit Rollator. Ich bin miserabel darin das Alter von Menschen zu schätzen, aber sie war in jedem Fall zu jung, um einen solchen Rollator zu brauchen. Worin ich gut bin, ist sehen ob Menschen Hilfe brauchen. Das ist auch nicht besonders schwer, aber in diesem Fall sah man sofort, dass auch dringende Hilfe von nöten war. Sie sprach mich auch direkt an oder versuchte es zumindest, denn ihre Stimme zitterte, wie auch ihr Körper, wie ich im Näherkommen sah. In dessem was ich eindeutig verstehen konnte fragte sie mich, ob ich einen Moment Zeit hätte um sie nachhause zu bringen, es wäre nur noch eine Hausnummer weiter. Sie stand da wie paralysiert; der Rollator viel zu weit von ihr weg; selbst wenn sie versucht hätte mit kleinen Schritten zu laufen, wäre sie vermutlich gestürzt.
Ich habe im Rahmen meiner Möglichkeiten versucht zu helfen, habe die Frau gehalten, so dass ich den Rollator umdrehen konnte, sie sich darauf setzen konnte und ich sie zum Eingang ihres Hauses fahren konnte. Sie hat Multiple Sklerose erzählte sie. Genau weiß/wusste ich nicht was diese Krankheit bewirkt, aber da auch Menschen in meinem weiteren Umfeld daran erkrankt waren, sprangen mir zumindest Knochenschwund und Koordinationsschwierigkeiten ins Gedächtnis. Ob das richtig ist, weiß ich nicht. Sie erzählte, dass sie eigentlich im Rollstuhl sitzen würde und auch gerade erst aus dem Krankenhaus zurück war. Auch wenn mir die Frage im Kopf stand, wollte ich nicht von ihr wissen, warum sie dann überhaupt draußen war. Schwere Krankheiten nehmen einem das "gewöhnliche" Leben, vermute ich und manche Menschen wollen akzeptieren das nicht. Was es bei ihr war, werde ich nicht erfahren. 
Die Frage die ich gestellt habe, war die ob es jemanden gäbe, der ihr helfen könnte; auf welcher Etage sie denn wohnen würde und ob sie ihren Schlüssel bei sich trägt. Erfreulicherweise, kam aus dem türkischen Cafe an der Straße einer ihrer Nachbarn und half ihr sofort weiter. Er half mir sie die Stufen zum Haus hinauf zu tragen und übernahm dann. Ich habe mich bedankt und bin gegangen.
Auf dem restlichen Weg hat mich diese Situation sehr beschäftigt. Ich habe mich gefragt, ob ich alles richtig gemacht habe, habe mich weiter gewundert, warum sie überhaupt draußen war, wenn sie doch um ihre Gesundheit wusste. Der Vergleich hinkt mit Sicherheit, da jeder von uns Krankheiten und Lebensumstände unterschiedlich wahrnimmt und bewertet, aber ich habe gedacht, dass auch sie "vergiftet" ist. Natürlich nicht von einem Gedanken, aber das ist auch vollkommen egal. Ich glaube, sie wollte sich ihrem Gift nicht hingeben.
Wenn ich daran denke, dass alle guten Geschichten schon erzählt sind, dann kann ich mich jetzt damit abfinden. Vielleicht erzähle ich jetzt keine und auch in der Zukunft nie "gute" Geschichten. Vielleicht auch doch. In jedem Fall sind da aber noch genug Geschichten, die nicht erzählt wurden. Vielleicht ist eine davon die Geschichte von Menschen, die das Gift in sich bekämpfen.

Kommentare

  1. Das entscheidende, lieber Jay, ist doch, dass es deine Geschichte ist. Mit deiner ganz persönlichen Note, mit deinen ganz persönlichen kleinen Abweichungen von Standard. Vielleicht hat tatsächlich schon mal jemand die Geschichte von der Hexe erzählt, die zwei kleine Kinder mit ihrer Pfefferkuchenhütte anlockt und sie verspeisen will. Aber es werden deine Pfefferkuchen sein, deine Kinder und dein Ofen. Du wirst die Freude empfunden haben, diesen wenigen Zutaten Leben einzuhauchen, und es werden sich immer wieder Menschen finden, die die gleichen Geschichten jedes mal von neuem lesen und sich von ihrer Andersartigkeit faszinieren. Schreib, solange du Freude daran hast. Alles ist gut, solange du wild bist ;-)

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  2. Ich weiß, ich schwärme dir schon seit Jahren vor, wie sehr ich dich und deine Schreibe schätze. Und trotzdem sage ich es hiermit noch einmal.

    Schön, dass du uns an deinen Überlegungen Teil haben läßt, Jay. ich finde, diese Gedanken machen deine Texte noch besser.

    Denn wenn man es genau betrachtet und alles, sei es nun Text, Film oder sonstige Idee, weit genug reduziert, bleiben die Zwänge und Emotionen übrig, denen wir Menschen unterworfen sind. Daher ist auch das neueste doch irgendwie immer schon einmal dagewesen. Und das ist nichts Schlimmes, im Gegenteil. Denn ein Teil von dir ist in jedem Text und macht ihn einzigartig. Und ein Teil Text spricht ein Winziges in uns an, weil es sich auf ein Essentielles bezieht.
    Diese einzigartigen, von dir auf deine Art geprägten Texte, das ist gute Texte.

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  3. Oh man! Führen wir zufällig sowas wie Parallelleben?

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  4. An Träger:
    Das ist vermutlich wahr; es geht nicht nur um die Originalität. Auch mir fallen in guten modernen Geschichten immer wieder Ausleihungen aus klassischer Literatur auf. Und ich rede da von weniger auffälligen als James Camerons Pocahont-avatar.
    Trotzdem ist die Originalität immer etwas, was man doch irgendwie erreichen möchte.
    Erfreulicherweise, kenne ich einen Teil meiner persönlichen Noten, die ich einem Text geben kann, aber die Frage, ob man damit dauerhaft Leute begeistern kann, die beginnt dann als zweite kleinere Gedankenschlange umher zu streifen.

    An Citara:
    die Einzigartigkeit stelle ich vielleicht viel zu selten der Originalität entgegen. Danke für deine Treue zu mir und meinen Texten.

    An Mary:
    Ich weiß nicht? Vielleicht musst du erstmal mir erzählen/bloggen wo die Parallelen liegen. Ich fände es in jedem Fall spannend, würden wir ein Parallelleben führen. also spannend genug, um es weiter zu verfolgen.

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