Mit anderen Augen - Teil 1

"So, der Computer müsste ihre Akte gleich geladen haben."
Irgendwie hatte Herr Schmidt gerade ein wenig geträumt.
"Da haben wir sie doch. Ich lese ihre Daten vor, sie bestätigen dann bitte.", sagte der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches, der Name war Herrn Schmidt gerade entfallen.
"Adrian Adam Schmidt?"
"Ja.", gab er knapp zurück und fragte: "Entschuldigen sie, aber wo zu machen wir das hier nochmal?"
Der Fremde lächelte warm und verständnisvoll, bevor er antwortete: "Wir gleichen ihre Daten ab, damit wir sicher sein können, dass uns kein Fehler unterlaufen ist."
Mit einem "Natürlich.", versuchte Herr Schmidt etwas Sicherheit aufkommen zu lassen, war aber vollkommen ahnungslos, wo er sich hier gerade befand. Vermutlich ein Auftraggeber.
"Also. Adrian Adam Schmidt war richtig?"
"Ja."
"Danke. Sie sind 47 Jahre alt, am 09.09. geboren?"
"Genau."
Der Fremde schaute befremdlich. Es war eine Mischung aus Skepsis und Freundlichkeit: "Antworten sie doch bitte nur mit einem eindeutigen Ja."
"Ja.", sagte und "Ganz schön pingeliger Typ", dachte Herr Schmidt.
"Sie haben drei Kinder mit zwei Frauen. Lukas Adam Schmidt, 16 Jahre alt; Vivien Schmidt, 15..", doch Herr Schmidt unterbrach: "Warum müssen sie das denn wissen? Meine Kinder gehen sie nichts an!"
Der Fremde rollte auf seinem Stuhl ein Stück zur Seite, so dass er nicht mehr den Monitor, sondern ganz direkt Herrn Schmidt ansah.
"Sehen sie Herr Schmidt, das ist alles Routine. Ich habe mir das nicht ausgedacht, Sie haben sich das nicht ausgedacht, machen müssen wir es trotzdem. Sonst sitzen wir hier nämlich eine halbe Ewigkeit. Das stört sie vielleicht nicht mehr so, aber mich."


"Ja.", sagte der brave Herr Schmidt und "Ganz schön altkluger und nerviger Typ.", dachte Herr Schmidt. Und da er unruhig war und unruhiger wurde, sagte er: "Ich habe auch nicht den ganzen Tag Zeit, irgendwann will ich auch nach hause, zu meiner Familie."
Der Fremde, der eigentlich schon wieder hinter seinen Monitor gerollt war, fuhr direkt wieder zurück. Sein sehr junges Gesicht stellte einen neuen sonderbaren Gesichtsausdruck zusammen. Eine Mischung aus Neugierde und Überraschung, gewürzt mit der leichten Dominanz.
"Herr Schmidt, erinnern sie sich daran, wie sie hier her gekommen sind?"
Was für eine blöde Frage. "Natürlich weiß ich das noch. Ich bin mit meinem Firmenwagen von der Firma aus los gefahren und dann..." Obwohl er die Situation genau vor Augen hat, greift sein Gedächtnis ins Leere. Wo gerade noch ein buntes Bilderbuch der Erinnerung aufgeschlagen war, sind jetzt nur noch leere Seiten.
"Herr Schmidt", der Fremde klang inzwischen bekümmert, "Wissen sie, wo sie sind?"
Und wieder ereilte ihn nur das Gefühl, in seinem Gedächtnis frei zu fallen. Überfordert und verwirrt stammelt er nur:
"Ich bin mit meinem...bin ich? Von der Firma und dann..."
Auch wenn Herr Schmidt auf seinem Abreißkalender mal von Platon den Spruch: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." stehen hatte, fühlte er sich jetzt nicht besonders um Erkenntnis bereichert. Bemüht seine Fassung zu finden, sah er den Fremden genau an.
"Nein. Ich habe keine Ahnung wo ich bin. Wo bin ich?"
Der Fremde fuhr sich durch die Haare, überlegte kurz sehr theatralisch, indem er sich mit den Fingern am Kinn entlang kratzte und dann sagte er:
"Sehen sie, vielleicht kehrt ein Teil ihrer Erinnerung zurück, wenn wir den Fragebogen weiter abarbeiten?"
Verwirrt nickte Herr Schmidt und kämpfte darum seine Gedanken zu fassen, die neben ihm her ins Bodenlose stürtzten.
"Wir waren bei ihren Kindern stehen geblieben. Lukas Adam, 16; Vivien, 15 und Niklas Adam, 3."
"Ja.", gab Herr Schmidt knapp von sich und langsam kam ihm sein Verstand zurück.
"Ihre Frauen? Sarah, ebenfalls 47 und Jennifer, 19."
"Nein. Ich habe nie geheiratet und Jennifer ist 25. Aber woher wissen sie..."
"Nun, Herr Schmidt. Da besteht jetzt die Möglichkeit, dass Jennifer ihnen nicht ganz die Wahrheit gesagt hat."
Herr Schmidt, der sich gar nicht so sehr auf diesen Fakt konzentrieren konnte, wurde langsam etwas wütend: "Sagen sie mal, wo sind wir hier denn jetzt und wer sind sie, dass sie mir so Fragen stellen?" - Denn egal ob er bei einem Amt, bei einem Kunden oder in einem Bewerbungsgespräch war, diese Fragen gingen zu weit.
Vollkommen ritualisiert tauchte der Fremde wieder hinter seinem Monitor auf. "Herr Schmidt.", sagte er etwas enttäuscht "konzentrieren sie sich doch mal genau darauf, wie sie zu mir gekommen sind. Schauen sie tief in sich rein."

Herr Schmidt war gerade in einen Firmenwagen gestiegen. Dieses Wochenende durfte er ihn mitnehmen, denn am Sonntag Abend fuhr er Richtung München los, damit er Montag Morgen beim Kunden pünktlich ankam. Ein Flug oder eine Zugfahrt wären vielleicht günstiger gewesen, aber den BMW zu bekommen war für Herrn Schmidt irgendwie günstiger.
In einer Stunde musste er die Kinder abholen, vorher könnte er also noch was unternehmen. Schön in Rüttenscheid, die Rü entlang fahren. Dann teuer was Essen gehen, zeigen, was man eigentlich nicht hat. Zwar trug er gerne Anzug und Lackschuhe, aber die Label in den Jacketts hatte er sich billig einnähen lassen, damit aus Quelle und BonPrix schnell Boss und Armani wurden.
Bevor er seine Gedanken selbst in ihre Richtung lenken musste, kam auch schon eine SMS von Jenny. "Beim Anprobieren ist der Verschluß an meinem Korsett kaputt gegangen, kannst du mir vielleicht raushelfen kommen? ;) HDL" So hätte es jeden Tag laufen können.
Nachdem Sarah sich von ihm getrennt hatte, dachte er erst, das Leben würde schwerer. So ganz ohne die Kinder, ohne Rückhalt, ohne frische Hemden im Schrank. Aber schon kurz darauf, merkte er, dass sein Vater immer recht hatte. "Wenn du dich um das gute Leben bemühst, dann bemüht es sich auch um dich.".
Seinen Rüttenscheid-Plan verworfen, beschloß Herr Schmidt noch eben mit Jenny zu schlafen, bevor er dann die Kinder abholte. Da SMS für ihn befremdlich waren, rief er sie kurz an. "Hallo Schatz. Soll ich dich abholen? Dann werf dir eben was über, aber nicht zu viel.", mühte er sich locker zu wirken, war aber genau so verklemmt, wie sein Telefon zwischen Schulter und Ohr.

Kommentare

  1. Oh da bin ich ja mal gespannt wie es weiter geht - sehr schöner Schreibstil.

    Als alter Rechtschreibnazi habe ich einen kleinen Fehler gefunden, am Anfang muss es "ihre" Akte heißen ;)

    AntwortenLöschen
  2. Nett! Ich hab einen Anfangsverdacht, der die Geschichte sehr viel versprechend macht!

    AntwortenLöschen
  3. Also Herr Schmid ist mir bisher ziemlich unsympatisch, ganz im Gegensatz zu der Geschichte. *zu Teil 2 weitereil* ;)

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Anmerkungen? Fragen? Wünsche? Schreib gerne einen Kommentar. Ich schaue regelmäßig rein, moderiere die Kommentare aber auch, also bleibt nett.

Vielleicht auch spannend: