Tragbare Bildung

In Gedenken an die Printversion der "Newsweek" und vieler weiterer Zeitungen, die aufgrund sinkender Verkaufszahlen eingestellt wurden:

Da lag sie. Grau. Dick. Unansehnlich. Kaum beachtet. Dabei mit so viel innerer Tiefe ausgestattet. Dennoch weiß ich gar nicht mehr, was mich dazu bewog zuzugreifen. Rückblickend fällt mir nicht einmal mehr das Datum ein, geschweige denn der Wochentag, an dem es geschah. Dabei war es ein denkwürdiger Tag: Ich kaufte eine Zeitung.

Es fühlte sich seltsam an, dieses bedruckte Papier, das man nur noch sehr selten in Zügen sieht, wenn überhaupt noch irgendwo, außer vielleicht in Hotellounges. Und dann meistens das Machwerk mit reißerischen Titeln, die alle auf irgendeine Art und Weise nach Weltuntergang klingen. Ich bevorzuge lieber die eloquentere Variante, mit der Stadt im Namen, in der die deutsche Börse ansässig ist. 

Gleich darauf ärgere ich mich allerdings. Ich wusste gar nicht mehr, wie unhandlich so eine Zeitung ist. Hätte ich doch lieber die Kompaktausgabe einer anderen Tageszeitung gewählt. Andererseits denke ich mir: Wenn, dann richtig! Beim Kauf wird mir jedoch schon wieder anders. Ich habe vergessen, vorher noch Geld abzuholen. Für diesen stolzen Preis hätte ich mir ein schmackhaftes Brötchen kaufen können. Jetzt muss ich mich mit leerem Magen auf den Weg machen. Für den Weg zum Automaten reicht die Zeit nicht. In diesem Fall siegt die Bildung wohl über den Hunger. 

Dennoch etwas angefressen mache ich mich auf den Weg zum Gleis. Ich klemme mir die Zeitung dazu unter den rechten Arm. Ich fühle mich sofort irgendwie elitär. Die Menschen, die an mir vorbeihuschen, versuchen vergeblich einen Blick auf die Schlagzeile zu erhaschen. Durch meinen Oberarm und den Knick in der Mitte der Zeitung können Sie höchstens die Hälfte entschlüsseln. Die Neugier packt mich ebenso. Ich selbst weiß noch gar nicht, was der Aufmacher ist. Als ich die Zeitung kaufte, lag sie mit der Rückseite nach oben.

Als ich am Gleis stehe, betrachte ich die Zeitung und überfliege die Titelseite. Sie ist noch zusammengefaltet. Ich will mit dem Aufschlagen warten, bis ich im Zug sitze. Politik, Politik, Wirtschaft, kleine Kolumne, riesiges Bild von Zerstörung. Alles schon gelesen. Im Internet. Bei der Onlineausgabe derselben Zeitung. Und bei anderen. Auf mich wartet nichts Neues. Ich bin wieder frustriert, denke an das Brötchen. 

Der Zug fährt ein. Nach dem gewonnenen Kampf um einen Sitzplatz will ich mich intensiver dem Inhalt der Zeitung widmen. In etwas weniger als 40 Minuten, die Dauer meiner Fahrt, sollte ich zumindest einen groben Überblick erhalten. Und das Kauen auf einem krossen, reichlich belegten Brötchen kann mich schließlich nicht ablenken. 

Ich schlage die Zeitung auf. Mein halber Arm hängt vor dem Gesicht meines Sitznachbarn. Er sieht mich etwas verwirrt an. Mit einem verzeihenden Blick versuche ich die Zeitung auf ein handlicheres Format zu falten. Sie widersetzt sich. Krachend und ätzend gibt sie mir erst nach hartem Kampf nach. Anschließend weiß das gesamte Abteil, dass ich eine Zeitung mit mir führe. Mein Nachbar hat seinen Blick von verwirrt auf erzürnt umgestellt. Ich bilde mir ein, ein leichtes Kopfschütteln erkennen zu können. In mir steigt ein leichtes Gefühl der Scham auf. Es war dumm von mir, eine Zeitung zu kaufen. 

Dieses Gefühl währt jedoch nicht lange. Pah, ihr ungebildeten Schnösel. Ihr vor dem Bildschirm dahinsiechenden Geschöpfe, die ihr nicht einmal für zwei Minuten eine Nachricht behalten könnt. Ich lese, ja LESE, die Nachrichten noch richtig! Ich vertiefe mich wieder in die Zeitung. Ich überfliege alles, kann mich kaum konzentrieren. Die täglich 9 Stunden vor dem Rechner machen sich bemerkbar. Ich lese mittlerweile zu viel am Bildschirm. So viele Buchstaben, die auf mich einprasseln. Zudem ist Politik so früh am Morgen nur etwas für die Leute, die sich damit beschäftigen müssen.

Ich will mir etwas schnell Verdauliches suchen. Der Sportteil scheint mir die perfekte Wahl. Dazu müsste ich allerdings umblättern. Nach kurzer Überlegung lasse ich es lieber und bleibe bei den Unruhen in Ägypten. Dieser Artikel ist viel ausführlicher als dessen Pendant in der Onlineausgabe. Nach Beenden des Artikels blicke ich kurz auf. Meine Augen benötigen Entspannung. Als ich aus dem Fenster sehen will, erwische ich meinen Nachbarn dabei, wie er meine Zeitung durchliest. Er bemerkt, dass ich ihn beobachte. Er lächelt verzeihend, ich schüttele leicht meinen Kopf. 

Am Zielbahnhof angelangt habe ich die Titelseite fertiggelesen. Ich fühle mich informiert, klug, als ob meine eigene Ausdrucksweise eine halbe Stunde lang auf einer Fortbildung gewesen ist. Ein gutes Gefühl. Während der Arbeit blicke ich immer wieder auf die Zeitung. Was lese ich als nächstes? Den Blick in die Onlineausgaben spare ich mir an diesem Tag. 

In der Mittagspause schnappe ich mir sofort die Zeitung. Jetzt ist der Wirtschaftsteil dran. Überhaupt nicht mein Fall. Bis jetzt. Ich wusste gar nicht, wie spannend diese Entwicklungen tatsächlich sein können. Plötzlich schreit mein Kollege auf. Er hat Kaffee verschüttet, der sich in rasender Geschwindigkeit auf den Lüfter seines PC-Gehäuses zubewegt. Panisch blickt er sich um, entdeckt meine Zeitung. Ohne zu fragen schnappt er sich den Teil, den ich aufgrund besserer Handlichkeit abgelegt habe. Für einen Moment bin ich sprachlos. Ich blinzele. Blinzele erneut. Kann kaum mehr atmen. Er hat das Papier dazu benutzt, um den Kaffee aufzusaugen. 

Die Wut bahn sich ihren Weg, drängt mein Sozialverhalten zur Seite. Ich schreie und lasse eine Tirade von Schimpfwörtern auf ihn niederprasseln. Wie bescheuert kann man sein?! Und dann auch noch ohne zu fragen! Er gibt sich keine Blöße. Es sei doch nur Papier. Außerdem würde ich die Zeitung doch sowieso nicht ganz lesen. Trotzig behaupte ich natürlich das Gegenteil. Es sei sein Glück, dass es der Teil gewesen sei, den ich bereits gelesen habe. Wir beruhigen uns wieder. 

Als er die Zeitung auswringt, entdeckt er einen Artikel, überfliegt ihn. Das wüsste er ja noch gar nicht. Ich schaue ihn wütend an und entreiße ihm die Zeitung. Er solle sich seine eigene kaufen. Als ich mich wieder umdrehe, muss ich grinsen. Ha, wieder einer! Kurz darauf entschuldige ich mich und überlasse ihm das mittlerweile kaffeebraune Stück Papier. Wir diskutieren über den Artikel, es entbrennt eine Debatte. Auch andere Kollegen steigen mit ein. Denen, die keine Ahnung haben, geben wir erst einmal den Kaffeeartikel zu lesen. Die Arbeit kommt für einige Zeit zum erliegen.

Nach der Arbeit mache ich einen kleinen Spaziergang durch einen kleinen Park. Auf einer Bank mache ich Halt. Ich will weiterlesen. Ganz vertieft in einen Artikel über den derzeitigen Wert eines Kunstwerks bemerke ich nicht, dass sich ein Obdachloser neben mich gesetzt hat. Er bleibt solange still, bis ich von der Zeitung aufblicke. Mit den wenigen Zähnen, die ihm noch geblieben sind, lächelt er mich an. Auf die eloquenteste Art und Weise, die der eines rhetorisch hervorragend ausgebildeten Politikers gleicht, fragt er mich, ob er einen Teil der Zeitung haben könne. Er scheint meine Verwunderung zu bemerken und erklärt mir: Bevor er die Zeitung als Decke nutze, lese er sie. Freudig gebe ich ihm den Teil, den ich auf der Parkbank zu Ende gelesen habe. 

Übrig bleibt das Feuilleton. Mein Lieblingsteil. Ich habe ihn mir bewusst für die Rückfahrt aufgehoben. Dazu muss ich zunächst ein Stück mit der Straßenbahn zum Bahnhof fahren. Es ist nur noch ein Platz neben einem Teenager mit Kopfhörern im Ohr frei. Ich frage mich, wozu er sie benötigt. Er hört so laut Musik, dass ich jede Liederzeile klar verstehe. Dennoch versuche ich mich zunächst auf meine Zeitung zu konzentrieren. Es gelingt mir nicht. Die Musik nervt. Ich gebe dem Teenie mit dem Feuilleton einen Klaps auf den Hinterkopf. Sanft versteht sich. Zumindest rutscht seine Basecap dadurch in eine annehmbare Position. Er ist so perplex, dass er die Musik tatsächlich leiser stellt. Ich bilde mir ein von allen anderen Leuten im Abteil stillen Beifall zu erhalten. 

Im Zugabteil angekommen, sind nur noch wenige Plätze frei. Ich muss mich schnell entscheiden. Leider bemerke ich zu spät, dass ich mich für einen versifften Sitz entschieden habe. Zum Glück habe ich eine Zeitung dabei. Den Teil mit den Anzeigen verwende ich als Sitzkissen. Selten habe ich so bequem gegessen. Die Buchempfehlungen, die ich währenddessen lese, notiere ich mir im Kalender. Bald stehen ein paar Geburtstage an. Mein Sitznachbar liest wieder mit. Ich gönne es ihm.

Zuhause angekommen habe ich die Zeitung fast vollständig gelesen. Mittlerweile ist sie eher gelblich. Ausgedünnt. Abgegriffen. Sie ist wunderschön. Das in ihr verankerte Wissen ist in Teilen nun in meinem Kopf. Verwahren will ich sie dennoch nicht. Meine Altpapiertonne ist nun ein besserer Ort für sie.

Am nächsten Tag kaufe ich mir erneut eine Zeitung. Diesmal habe ich auch genügend Kleingeld für eine Zeitung UND ein Brötchen eingesteckt. Ich scheine nicht der einzige zu sein: Als ich im Büro ankomme, liegen verschiedene Tageszeitungen auf den Tischen meiner Kollegen. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Kommentare

  1. Es ist und bleibt das beste Mittel, wirklich(!) informiert zu sein. Insbesondere, wenn man sich die angesprochene Zeitung zulegt.

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  2. Aktuelle Entwicklungen: http://www.welt.de/wirtschaft/article110259686/Auch-SZ-und-FAZ-fuehren-digitale-Abomodelle-ein.html

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  3. Anonym26.10.12

    Schöne Homage!
    Und nicht zu vergessen, der einmalige Geruch und die Druckerschwaerze an den Fingern. Die fehlen doch irgendwie sonst!

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