Was, wenn du in dem Boot sitzt?
„Willst du nicht doch mitkommen?“, fragte Jakob, als wir in die Chemnitzer Straße einbogen.
„Nein Danke, ich steh nicht so auf Drogen.“, sagte ich und versuchte in seinen Augen zu lesen, ob ich Recht hatte. „Du hast ein falsches Bild von ihnen.“ Jakob wandte den Blick von mir ab. Vielleicht hatte ich das. Vielleicht auch nicht. Die Typen mit denen er sich neuerdings traf waren mir unheimlich. Sie wirkten gefährlich.
Ich blieb stehen. „Bis morgen dann?“
„Ja klar, bis morgen.“ Ich sah, dass er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und da war er auch schon weiter gegangen.
Ich schloss die Tür auf und betrat das kühle Treppenhaus. Aus unserer Wohnung waren Stimmen zu hören; sie stritten. Ich öffnete vorsichtig und leise die Tür.
„Wir können froh sein Suse.“, kam die Stimme meines Vaters aus dem Wohnzimmer.
„Froh?“, fragte meine Mutter mit diesem Ton, der ganz ruhig klingen sollte.
„Ich lebe. Ich habe noch beide Beine, beide Arme.“
„Hättest du sie mal verloren, dann würdest du wenigstens etwas Geld bekommen von diesen Ver-, von diesem Staat!“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das kannst du nicht ernst gemeint haben.“
Stille trat ein.
„Nein, ich hab's nicht so gemeint.“, sagte meine Mutter. „Ich weiß einfach nicht...“
Ich ging so leise, wie möglich in die Küche und nahm einen Teller Suppe von gestern aus dem Kühlschrank. Während die Mikrowelle summte, verstummten die Stimmen. Meine Mutter kam herein. „Hallo Schätzchen.“
„Hey Mama.“
„Wie wars in der Schule?“
„Wie immer.“
„Wo ist Leonie?“
„Mit zu Anne.“ Mama nickte und fing an Gurke zu schneiden.
„Hier iss die auch.“
„Das ist doch nur Wasser.“ Ich hatte Gurken schon immer gehasst.
„Sie hatten nichts anderes da.“ Ich biss mir auf die Zunge, um die nächste bissige Bemerkung aufzuhalten. Natürlich hatten sie nichts da. Lebensmittel waren knapp, wie immer.
„Scheiß Verbrecher“, murmelte ich und biss in eine Gurkenscheibe.
„Jule!“, sagte Mama scharf. „Na ist doch wahr!“, beschwerte ich mich. Mama guckte aus dem Fenster. Was erwartete sie? Einen von der Stasi, der mit Aufnahmegerät herein lugte? Aber die Zeiten waren vorbei.
„Schatz, wegen des Kinobesuchs.“, fing Mama an.
„Kannst dir die Worte sparen.“, fauchte ich. „Wer braucht schon Kino in solchen Zeiten, nicht wahr?“ Ich schob den Teller von mir weg, stand auf und ging ins Bad. Ich wusch mir die Hände, das Gesicht und hielt vor dem Spiegel kurz inne. Ich machte meinen Zopf auf, versuchte die Haare zu richten. Ich machte den Zopf wieder zu und ging in mein Zimmer.
Scheiße.
„Juuuleee!“, brüllte meine Schwester. Seit ich meinen dritten Strich („Juuuleeee!“) im Klassenbuch fürs zu spät kommen hatte, weckte Leonie mich jeden Morgen äußerst ungalant und sehr hartnäckig. „Jule aufstehen, Jakob STEHT NACKT VOR UNSERER TÜR!“
„Halt die Klappe du Nuss.“ Sie kicherte. Ich betrat die Küche. „Igitt Leonie. Kannst du dir die Augenbrauen bitte im Bad zupfen?“, bat ich sie, während ich Kaffee aufsetzte.
Maulend sah sie auf. „Mama hat gesagt, du sollst nicht so viel Kaffee trinken, der ist teuer.“, sagte sie giftig.
„Wo ist Mama überhaupt?“, fragte ich.
„Frühschicht. Und Papa ist beim Arbeitsamt.“
„Vielleicht ist ja heute was dabei.“
„Träum weiter. Lenas Vater sucht schon seit einem halben Jahr. Er war mit Papa in Spanien und hat für irgendwas einen Orden gekriegt und so und trotzdem kriegt der nichts.“ Sie stand auf, schob sich an mir vorbei und ging ins Bad.
„Hm.“, murmelte ich.
Wenn Papa nicht bald Arbeit finden würde, müsste Mama unsere Reserven anbrechen. Aber wie lange würden die reichen? Ihr Gehalt war ein Witz für die Arbeit, die sie im Krankenhaus leistete. Und täglich kamen neue Kriegsverletzte. Papa hatte Recht gehabt gestern Abend. Er durfte nach einem Bandscheibenvorfall wieder nach Hause. In Gedanken versunken machte ich das Radio an.
„...hat Frankreichs Ministerpräsident erneut zu Frieden aufgerufen. Er appellierte an die Bundeskanzlerin, dass ein derartiger Krieg in keinster Weise den Werten der Europäischen Union entspreche und drohte mit verschärften Sanktionen. Seit Mitte August bezieht die Bundesrepublik keine frischen Lebensmittel mehr aus dem Ausland. In zwei Monaten soll auch die Konservenlieferung eingestellt werden, falls Deutschland und Spanien sich nicht auf einen Waffenstillstand einigen. Die Bundesregierung bittet alle Bürger sorgsam und sparsam mit allen Lebensmitteln umzugehen. Und nun Jens Pilger mit einem Bericht über den neuen Ansturm auf lokale Landwirte. Danke Ursula Schön...“
Scheiße. Das hieß, dass Lebensmittel noch teurer würden. Ich ging in mein Zimmer und zog meine Jeans und ein T-Shirt an. Keine Glanzleistung, aber das war jetzt auch egal.
„Darf ich mal?“, fragte ich Leonie, die vor dem Badezimmerspiegel stand und sich schminkte. Ich fuhr mit der Bürste durch meine Haare, gab auf und machte einen Zopf.
„Ein bisschen Farbe im Gesicht würde dir auch nicht schaden.“, sagte Leonie sachlich, während ich meine Zähne putzte.
„Überschmink nicht zu viel, sonst sieht man dein Gesicht nicht mehr.“, sagte ich beim Rausgehen. Leonie kicherte.
Jakob wartete schon, als ich aus der Haustür trat. Er lehnte am Briefkasten und drehte eine Zigarette. Ich rümpfte die Nase.
„Muss das sein?“
„Hm.“, er nahm beim Gehen ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete die Scheiß-Kippe an.
„Sie wollen weitere Lebensmittellieferungen einstellen.“, sagte ich.
„Ja, ich habs auch gehört.“
„Willst du dein Geld nicht lieber für was Sinnvolles sparen?“, fragte ich.
„Hm?“
Ich deutete auf seine Kippe. „Ich versteh das nicht, alles wird knapp und trotzdem kaufen die Menschen Tabak und Alkohol. Obwohl es doch so teuer ist!“
„Was haben wir denn sonst noch?“, fragte er.
Ich hasste es, wenn er mit diesem ich-bin-so-weise-und-welterfahren-Gerede anfing. Schweigend gingen wir weiter.
„Da, die machen jetzt noch mehr Werbung.“, Jakob spuckte auf den Boden. Ich schaute auf und sah die Litfaßsäule, auf die er zeigte. Sie war voll eingenommen mit zwei glücklichen Soldaten. Ein Junge mit schwarzem Haar und ein blondes Mädchen lächelten mit geradem Kopf und stolzer Brust. Beweise Mut. Werde ein Held. MACH MIT!, hieß es dort in roten Buchstaben.
„Papa denkt, dass sie die Wehrpflicht wieder einführen, wenn das so weiter geht.“, sagte ich leise.
„Da werden die nicht mit durchkommen, scheiß Kriegsverbrecher.“, sagte er bestimmt.
„Und wenn doch?“
Wir sollten eine Kurvendiskussion durchführen. Der gesamte Kurs schien beschäftigt, aber nicht alle machten Mathe. Ich stützte meinen Kopf mit einer Hand und beobachtete Herrn Wolf, der offensichtlich aufgegeben hatte und am Nerdtisch mit Tim und den anderen über die Aufgabe sprach. Jakob saß mit Lukas am Fenster, aber ich konnte nicht hören, was sie beredeten. Die Tür ging auf und die Sekretärin Frau Möller kam herein. Sie tauschte einen stummen Blick mit Herrn Wolf und sagte dann: „Jule Brink?“
„Ja?“, sagte ich.
„Komm bitte mit runter zu Herrn Schmidt. Du kannst deine Sachen ruhig mitnehmen.“
Ich stopfte mein völlig leeres Matheheft in die Tasche. Alle schauten mir zu. Ich sah Jakob an. Sein Gesicht rührte sich nicht. Frau Möller und ich gingen schweigend raus, den Gang entlang, zwei Treppen runter und einen weiteren Gang. Während wir gingen, wurde es mir klar. Es war soweit. „Herr Schmidt erwartet dich.“ Ich konnte nichts sagen. Ich ging einfach an ihr vorbei und betrat das Büro.
„Jule.“, sagte Herr Schmidt. Er stand sogar auf und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Sicher ahnst du schon, warum ich dich sprechen muss.“, sagte er. Ich blickte ihn an. Er hatte einen Bart, der wohl mal braun gewesen war und auf seinem Kopf war eine beginnende Glatze zu sehen. Seine Augen betrachteten mich abwartend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Wie du weißt, müssen wir seit Kriegsausbruch in Spanien Schulgebühren verlangen. Das gehört zur Sparauflage, es ist in ganz Deutschland so. Eltern, die sich das nicht leisten können, konnten Hilfe anfordern.“ Herr Schmidt sprach ganz sachlich. Ich stellte mir vor, wie er diese Rede hier im Büro geübt hatte. „Diese Hilfe wurde eingestellt.“ Er machte eine Pause und sah mich wieder an. Wollte er, dass ich ihm dabei half? Ich senkte meinen Blick.
„Nun Jule, auch die Schulgebühren für dich werden nicht mehr übernommen. Hat sich die finanzielle Situation deiner Familie gebessert?“, fragte er sanft und beugte sich etwas vor.
Ich schüttelte den Kopf. Herr Schmidt lehnte sich wieder zurück und sein Ton wurde wieder sachlich.
„Es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, dass du den Unterricht nicht mehr besuchen kannst, falls deine Familie das Geld nicht aufbringen kann.“
Ich blickte auf. „Was macht es denn für einen Unterschied?“, fragte ich.
„Wie bitte?“
„Ob ich im Unterricht sitze oder nicht, was macht das für einen Unterschied? Ich meine einer mehr oder weniger...“
„So sind nun mal die Regeln. Wir finanzieren uns jetzt über eure Gelder Jule, wie ein Unternehmen. Wer nicht zahlt, bekommt keine Leistung.“ Herr Schmidt sprach, wie im Unterricht.
„Es tut mir sehr leid.“, fügte er hinzu.
„Aber es würde doch keiner merken oder? Ich meine, ich mache in ein paar Monaten Abi. Dann, naja dann ist es eh vorbei.“
„Und dann kommen die nächsten, die nicht mehr zahlen können. Was sage ich denen? Außerdem...“, er räusperte sich. „Außerdem werden demnächst... so was wie Kontrolleure vorbei kommen. Wer illegale Schüler und Schülerinnen hat, muss Strafe zahlen.“
„Illegal.“, sagte ich und blickte ihn ungläubig an. Herr Schmidt tat mir leid. Es war ihm sichtlich unangenehm. Aber wie konnte man so sich so rückratlos diesen beschissenen Gesetzen beugen? Ich wurde auf einmal wütend.
„Was ist mit dem Recht auf Bildung? Sind wir kein Rechtsstaat mehr?“
„Ja. Unsere derzeitige Regierung interpretiert dieses Recht zur Zeit auf eine Grundbildung. Die Grundschulen werden normal weitergeführt.“, sagte Herr Schmidt traurig.
„Weißt du, in solchen Zeiten verlieren Werte und Ideale an Bedeutung. Wissen anstreben ist nicht mehr so wichtig, wie an der Front zu bestehen.“
„Hör mir jetzt gut zu Jule.“, Herr Schmidt lehnte sich erneut vor und sprach leise und eindringlich.
„Verlass das Land. Geh in die USA oder nach Ägypten oder Syrien, irgendwohin, wo sie sich Ausländer leisten können. Bitte dort um Asyl und versuch in die Schule zu kommen und einen internationalen Abschluss zu machen. Es wird nicht mehr lange dauern und der Krieg wird auch hier geführt werden.“ Er blickte aus dem Fenster, als erwartete er jemanden, der sein Ohr an die Scheibe hielt.
„Hier das ist ein Brief an deine Eltern. Das wär's dann.“, sagte er in normaler Lautstärke und reichte mir einen Umschlag. Ich stand auf. An der Tür blickte ich mich noch einmal um. Herr Schmidt setzte eine Lesebrille auf und betrachtete einen Stapel Papier. Der Stapel starrte zurück.
Ich ging raus, an Frau Möller vorbei, aus der Schultür, über den Schulhof. An der Schranke zum Parkplatz blickte ich mich um. Jakob stand am Fenster in der dritten Etage, der Naturwissenschaftsetage. Ich hielt meinen Arm mit dem Brief in die Höhe, drehte mich um und verließ das Schulgelände.
Meine Eltern nahmen die Nachricht mit Bestürzung entgegen. Sie machten sich große Sorgen, wann Leonie dran sein würde. Papa ging nochmal in die Schule und sprach mit Herrn Schmidt.
Dann ging er ins Rathaus und versuchte jemanden aufzutreiben, der zuständig war, doch er wurde an den Bund verwiesen. Seine Briefe wurden nie beantwortet. Mama hatte die Idee, mich sponsern zu lassen. Da ich so kurz vorm Abitur stand, wäre es ja nicht für lange. Doch die Geschäftsleute hatten eigene Probleme, da die Kaufkraft nachgelassen hatte und die großen Ketten verwiesen auf ihre Manager irgendwo in Deutschland für uns nicht erreichbar. Der Chefarzt im Krankenhaus zeigte sich irgendwann bereit, doch auf einmal wurden die Gehälter gekürzt und er teilte uns peinlich berührt mit, dass er ja auch seine eigenen Kinder stützen müsse. Mama verstand natürlich. Sie bedankte sich. Immer mehr Jugendliche landeten auf der Straße. Um sie darunter zu holen, dachte der Bund sich etwas Wunderbares aus. Sie bekamen eine Uniform, schliefen in Kasernen und lernten eine Waffe zu benutzen. Noch war das ein Angebot, doch immer mehr junge Menschen nahmen es an. Die Lebensmittelpreise stiegen weiter und die drei Mahlzeiten bei der Bundeswehr wurden immer verlockender.
Ich fing an im Krankenhaus zu putzen. Manchmal half ich auch beim Essen verteilen. Das brachte nicht viel, aber ein bisschen was. Papa hatte wieder Probleme mit dem Rücken. Die einzigen freien Stellen gab es bei Heckler & Koch und anderen Waffenherstellern, doch Papa konnte keine Maschine bedienen. Mama witzelte, er könne doch als Schneider anfangen – Grobmotoriker lernt Fädeln! Doch Papa schaffte es nur mit Müh und Not über diesen Scherz zu lachen.
Im April fielen die ersten Bomben. Frankreich hatte sich mit Spanien verbündet und versuchte den Druck auf Deutschland zu erhöhen. Die europäische Union existierte nicht weiter. Alle unsere Nachbarländer schlossen ihre Grenzen. Deutschland war dicht. Wer einen türkischen oder polnischen Pass hatte reiste aus. Wir hatten keinen türkischen oder polnischen Pass.
„Also ich kenn da diesen Typen.“, sagte Jakob und zündete sich eine Zigarette an. Wir saßen in meinem Zimmer auf dem Bett. Ich fing demonstrativ an zu husten, erhob mich und öffnete das Fenster. Jakob klopfte aufs Bett neben sich. Ich versuchte es mit einem bösen Blick, doch als er mich anlächelte setzte ich mich wieder.
„Ein Typ?“, fragte ich.
„Ja. Der bringt Leute nach Italien und von da aus mit dem Schiff nach Marokko.“
Ich blickte ihn ungläubig an. „Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Von Dortmund nach Gela in Italien sind es 2.324 Kilometer. Man braucht genau 23 Stunden. Dann geht’s mit dem Schiff weiter. Wir machen zwei Stopps. Einen auf Malta und einen auf Lampedusa.“
Ich blickte Jakob ins Gesicht. Mit seinen blonden Haaren und dem Sunnyboygesicht hätte er Werbung für Haargel machen können. Der neue Matt-Look mit extra Feuchtigkeit, wie vom Strand! Spürst du die Welle? Jetzt neu! Wann hatte dieses Gesicht aufgehört zu lächeln? Mein Jakob, der Kilometer zählte.
„Aber wie willst du nach Italien kommen? Die Grenzen sind dicht! Du kommst nicht mal in die Schweiz.“
„Ein Typ vom italienischen Konsulat schleust Leute im Kofferraum rüber.“
„Im Kofferraum?? Glaubst du echt, die durchsuchen die Autos nicht??“
„Der ist ein Diplomat oder sowas. Auf jeden Fall hat er Immunität.“
„Jakob es ist Krieg! Diplomatische Immunität hat Grenzen.“
„Ja, aber sie dürfen ihn nur durchsuchen, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt.“
„Deutschland mit dem Auto zu verlassen ist dann doch ein bisschen verdächtig oder?“
„Risiko. Bis jetzt sind zehn Leute rüber gekommen.“
„Und wie viele wurden geschnappt?“
Jakob wich meinem Blick aus. „Das hat er nicht gesagt.“, gab er zu.
Auf ein Mal war dieser Krieg näher als je zuvor. Ich bekam Panik. Wenn Jakob ging, würde ich ihn womöglich nie wieder sehen.
„Hör zu.“, sagte ich. „Was glaubst du denn wird dann passieren? Die in Marokko wollen uns doch überhaupt nicht. Die sind viel zu sehr damit beschäftigt ihren Reichtum zu vermehren oder Einfluss zu gewinnen. Die scheren sich doch nicht um ein paar dumme europäische Kinder, die noch nicht mal Arabisch sprechen!“
„Doch die scheren sich. Die hatten doch selbst Krieg. Die wissen wie das ist.“, widersprach er.
„Aber das ist fast 70 Jahre her! Da erinnert sich doch keiner mehr dran, wie das vor dem Arabischen Frühling und der kompletten Demokratisierung war.“
„Die erinnern sich sicher besser als wir. Wir hätten eine Chance Jule! Eine richtige Chance!“
„Was meinst du mit wir?!“, fragte ich entsetzt.
Da ging die Sirene los. Dortmund war bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht beschossen worden. Wir hatten die Sicherheitshinweise per Post bekommen. In der Tagesschau wurden sie jeden Abend wiederholt.
„Leonie, Jule, Jakob!“, schrie Mama aus dem Flur. Wir hasteten ins Treppenhaus, hinab in den Keller. Frau und Herr Ceylan standen schon vor der Tür. „Wir haben unseren Schlüssel vergessen.“, sagte Frau Ceylan. Papa trat nach vorn und öffnete die Tür. „Wir sollten sie nicht mehr abschließen“, sagte er. Herr Ceylan murmelte zustimmend. Im Gänsemarsch trippelten wir die Kellertreppe hinunter. „Frau Bärenbach!“, rief Papa überrascht.
Frau Bärenbach aus dem Erdgeschoss saß in der offenen Tür ihrer Kellerparzelle auf einem weißen Hocker und hielt ihren grauen fetten Kater umklammert.
„Haben Sie die Kellertür etwa von innen abgeschlossen?“, fragte Papa.
„Ja.“, sagte Frau Bärenbach.
Mama und Frau Ceylan tauschten einen entnervten Blick.
Während Papa versuchte Frau Bärenbach zu überzeugen, nächstes Mal doch zu warten, bis alle Nachbarn unten waren, trudelte der Rest des Hauses ein. Schön geordnet verkrümelte sich jeder in seine Parzelle. So saßen wir, umgeben von unserem Plunder und ärgerten uns, dass wir keine Wasserflasche mitgenommen hatten. Ich stöberte gerade in einer Kiste alter Kinderbücher von Leonie und mir, als wir einen gedämpften Knall hörten und eine Erschütterung spürten, wie ein leichtes Erdbeben.
„Wo war das?“, fragte Leonie. „War das weit weg?“
„Ich hoffe.“, sagte Mama.
„Warum sind Sie noch hier?“, fragte Jakob Herrn Ceylan. „Stammen Sie nicht aus der Türkei?“
„Ja tun wir.“, nickte Herr Ceylan. „Aber meine Frau und ich haben unsere türkischen Pässe vor langer Zeit abgegeben. Wir sind hier geboren, unsere Tochter ist hier geboren. Unsere Eltern haben ihre Pässe behalten, aber die sind auch schon vor zehn Jahren gestorben. Wir sind Deutsche. Wir haben nur den Namen und ein paar letzte Brocken türkisch.“
„Und deine Vorliebe für Sucuk!“, lachte Frau Ceylan und piekste ihren Mann in seinen Rettungsring.
„Naja, was man als Kind gern isst...“, weiter kam er nicht. Der nächste Knall ertönte. Etwas lauter diesmal. Und die Erschütterung etwas heftiger. War das ein Zeichen dafür, dass die Bombe näher eingeschlagen war? Oder war sie nur größer? Gab es große und kleine Bomben? Wer baute diese Dinger? Wer zum Teufel konnte es mit sich vereinbaren so etwas herzustellen? Ich fragte mich, ob Jakob gehen würde. Ich fragte mich, ob es wirklich möglich war, die Grenze zu überqueren. Ich fragte mich, ob ich mitgehen würde.
Und auf einmal wusste ich, wenn das hier so weiter ginge, würde ich alles tun, um wieder in Sicherheit zu leben. Das müssten die anderen Staaten doch verstehen. Marokko, Ägypten, Syrien, USA. Der Inbegriff von Freiheit und Sicherheit. Die müssten mich einfach aufnehmen. Ich war mir sicher, ich würde bei Bevölkerung, Staat und Verwaltung auf Verständnis und Empathie stoßen. Was anderes war doch gar nicht möglich. Oder?
„Nein Danke, ich steh nicht so auf Drogen.“, sagte ich und versuchte in seinen Augen zu lesen, ob ich Recht hatte. „Du hast ein falsches Bild von ihnen.“ Jakob wandte den Blick von mir ab. Vielleicht hatte ich das. Vielleicht auch nicht. Die Typen mit denen er sich neuerdings traf waren mir unheimlich. Sie wirkten gefährlich.
Ich blieb stehen. „Bis morgen dann?“
„Ja klar, bis morgen.“ Ich sah, dass er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und da war er auch schon weiter gegangen.
Ich schloss die Tür auf und betrat das kühle Treppenhaus. Aus unserer Wohnung waren Stimmen zu hören; sie stritten. Ich öffnete vorsichtig und leise die Tür.
„Wir können froh sein Suse.“, kam die Stimme meines Vaters aus dem Wohnzimmer.
„Froh?“, fragte meine Mutter mit diesem Ton, der ganz ruhig klingen sollte.
„Ich lebe. Ich habe noch beide Beine, beide Arme.“
„Hättest du sie mal verloren, dann würdest du wenigstens etwas Geld bekommen von diesen Ver-, von diesem Staat!“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das kannst du nicht ernst gemeint haben.“
Stille trat ein.
„Nein, ich hab's nicht so gemeint.“, sagte meine Mutter. „Ich weiß einfach nicht...“
Ich ging so leise, wie möglich in die Küche und nahm einen Teller Suppe von gestern aus dem Kühlschrank. Während die Mikrowelle summte, verstummten die Stimmen. Meine Mutter kam herein. „Hallo Schätzchen.“
„Hey Mama.“
„Wie wars in der Schule?“
„Wie immer.“
„Wo ist Leonie?“
„Mit zu Anne.“ Mama nickte und fing an Gurke zu schneiden.
„Hier iss die auch.“
„Das ist doch nur Wasser.“ Ich hatte Gurken schon immer gehasst.
„Sie hatten nichts anderes da.“ Ich biss mir auf die Zunge, um die nächste bissige Bemerkung aufzuhalten. Natürlich hatten sie nichts da. Lebensmittel waren knapp, wie immer.
„Scheiß Verbrecher“, murmelte ich und biss in eine Gurkenscheibe.
„Jule!“, sagte Mama scharf. „Na ist doch wahr!“, beschwerte ich mich. Mama guckte aus dem Fenster. Was erwartete sie? Einen von der Stasi, der mit Aufnahmegerät herein lugte? Aber die Zeiten waren vorbei.
„Schatz, wegen des Kinobesuchs.“, fing Mama an.
„Kannst dir die Worte sparen.“, fauchte ich. „Wer braucht schon Kino in solchen Zeiten, nicht wahr?“ Ich schob den Teller von mir weg, stand auf und ging ins Bad. Ich wusch mir die Hände, das Gesicht und hielt vor dem Spiegel kurz inne. Ich machte meinen Zopf auf, versuchte die Haare zu richten. Ich machte den Zopf wieder zu und ging in mein Zimmer.
Scheiße.
„Juuuleee!“, brüllte meine Schwester. Seit ich meinen dritten Strich („Juuuleeee!“) im Klassenbuch fürs zu spät kommen hatte, weckte Leonie mich jeden Morgen äußerst ungalant und sehr hartnäckig. „Jule aufstehen, Jakob STEHT NACKT VOR UNSERER TÜR!“
„Halt die Klappe du Nuss.“ Sie kicherte. Ich betrat die Küche. „Igitt Leonie. Kannst du dir die Augenbrauen bitte im Bad zupfen?“, bat ich sie, während ich Kaffee aufsetzte.
Maulend sah sie auf. „Mama hat gesagt, du sollst nicht so viel Kaffee trinken, der ist teuer.“, sagte sie giftig.
„Wo ist Mama überhaupt?“, fragte ich.
„Frühschicht. Und Papa ist beim Arbeitsamt.“
„Vielleicht ist ja heute was dabei.“
„Träum weiter. Lenas Vater sucht schon seit einem halben Jahr. Er war mit Papa in Spanien und hat für irgendwas einen Orden gekriegt und so und trotzdem kriegt der nichts.“ Sie stand auf, schob sich an mir vorbei und ging ins Bad.
„Hm.“, murmelte ich.
Wenn Papa nicht bald Arbeit finden würde, müsste Mama unsere Reserven anbrechen. Aber wie lange würden die reichen? Ihr Gehalt war ein Witz für die Arbeit, die sie im Krankenhaus leistete. Und täglich kamen neue Kriegsverletzte. Papa hatte Recht gehabt gestern Abend. Er durfte nach einem Bandscheibenvorfall wieder nach Hause. In Gedanken versunken machte ich das Radio an.
„...hat Frankreichs Ministerpräsident erneut zu Frieden aufgerufen. Er appellierte an die Bundeskanzlerin, dass ein derartiger Krieg in keinster Weise den Werten der Europäischen Union entspreche und drohte mit verschärften Sanktionen. Seit Mitte August bezieht die Bundesrepublik keine frischen Lebensmittel mehr aus dem Ausland. In zwei Monaten soll auch die Konservenlieferung eingestellt werden, falls Deutschland und Spanien sich nicht auf einen Waffenstillstand einigen. Die Bundesregierung bittet alle Bürger sorgsam und sparsam mit allen Lebensmitteln umzugehen. Und nun Jens Pilger mit einem Bericht über den neuen Ansturm auf lokale Landwirte. Danke Ursula Schön...“
Scheiße. Das hieß, dass Lebensmittel noch teurer würden. Ich ging in mein Zimmer und zog meine Jeans und ein T-Shirt an. Keine Glanzleistung, aber das war jetzt auch egal.
„Darf ich mal?“, fragte ich Leonie, die vor dem Badezimmerspiegel stand und sich schminkte. Ich fuhr mit der Bürste durch meine Haare, gab auf und machte einen Zopf.
„Ein bisschen Farbe im Gesicht würde dir auch nicht schaden.“, sagte Leonie sachlich, während ich meine Zähne putzte.
„Überschmink nicht zu viel, sonst sieht man dein Gesicht nicht mehr.“, sagte ich beim Rausgehen. Leonie kicherte.
Jakob wartete schon, als ich aus der Haustür trat. Er lehnte am Briefkasten und drehte eine Zigarette. Ich rümpfte die Nase.
„Muss das sein?“
„Hm.“, er nahm beim Gehen ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete die Scheiß-Kippe an.
„Sie wollen weitere Lebensmittellieferungen einstellen.“, sagte ich.
„Ja, ich habs auch gehört.“
„Willst du dein Geld nicht lieber für was Sinnvolles sparen?“, fragte ich.
„Hm?“
Ich deutete auf seine Kippe. „Ich versteh das nicht, alles wird knapp und trotzdem kaufen die Menschen Tabak und Alkohol. Obwohl es doch so teuer ist!“
„Was haben wir denn sonst noch?“, fragte er.
Ich hasste es, wenn er mit diesem ich-bin-so-weise-und-welterfahren-Gerede anfing. Schweigend gingen wir weiter.
„Da, die machen jetzt noch mehr Werbung.“, Jakob spuckte auf den Boden. Ich schaute auf und sah die Litfaßsäule, auf die er zeigte. Sie war voll eingenommen mit zwei glücklichen Soldaten. Ein Junge mit schwarzem Haar und ein blondes Mädchen lächelten mit geradem Kopf und stolzer Brust. Beweise Mut. Werde ein Held. MACH MIT!, hieß es dort in roten Buchstaben.
„Papa denkt, dass sie die Wehrpflicht wieder einführen, wenn das so weiter geht.“, sagte ich leise.
„Da werden die nicht mit durchkommen, scheiß Kriegsverbrecher.“, sagte er bestimmt.
„Und wenn doch?“
Wir sollten eine Kurvendiskussion durchführen. Der gesamte Kurs schien beschäftigt, aber nicht alle machten Mathe. Ich stützte meinen Kopf mit einer Hand und beobachtete Herrn Wolf, der offensichtlich aufgegeben hatte und am Nerdtisch mit Tim und den anderen über die Aufgabe sprach. Jakob saß mit Lukas am Fenster, aber ich konnte nicht hören, was sie beredeten. Die Tür ging auf und die Sekretärin Frau Möller kam herein. Sie tauschte einen stummen Blick mit Herrn Wolf und sagte dann: „Jule Brink?“
„Ja?“, sagte ich.
„Komm bitte mit runter zu Herrn Schmidt. Du kannst deine Sachen ruhig mitnehmen.“
Ich stopfte mein völlig leeres Matheheft in die Tasche. Alle schauten mir zu. Ich sah Jakob an. Sein Gesicht rührte sich nicht. Frau Möller und ich gingen schweigend raus, den Gang entlang, zwei Treppen runter und einen weiteren Gang. Während wir gingen, wurde es mir klar. Es war soweit. „Herr Schmidt erwartet dich.“ Ich konnte nichts sagen. Ich ging einfach an ihr vorbei und betrat das Büro.
„Jule.“, sagte Herr Schmidt. Er stand sogar auf und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Sicher ahnst du schon, warum ich dich sprechen muss.“, sagte er. Ich blickte ihn an. Er hatte einen Bart, der wohl mal braun gewesen war und auf seinem Kopf war eine beginnende Glatze zu sehen. Seine Augen betrachteten mich abwartend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Wie du weißt, müssen wir seit Kriegsausbruch in Spanien Schulgebühren verlangen. Das gehört zur Sparauflage, es ist in ganz Deutschland so. Eltern, die sich das nicht leisten können, konnten Hilfe anfordern.“ Herr Schmidt sprach ganz sachlich. Ich stellte mir vor, wie er diese Rede hier im Büro geübt hatte. „Diese Hilfe wurde eingestellt.“ Er machte eine Pause und sah mich wieder an. Wollte er, dass ich ihm dabei half? Ich senkte meinen Blick.
„Nun Jule, auch die Schulgebühren für dich werden nicht mehr übernommen. Hat sich die finanzielle Situation deiner Familie gebessert?“, fragte er sanft und beugte sich etwas vor.
Ich schüttelte den Kopf. Herr Schmidt lehnte sich wieder zurück und sein Ton wurde wieder sachlich.
„Es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, dass du den Unterricht nicht mehr besuchen kannst, falls deine Familie das Geld nicht aufbringen kann.“
Ich blickte auf. „Was macht es denn für einen Unterschied?“, fragte ich.
„Wie bitte?“
„Ob ich im Unterricht sitze oder nicht, was macht das für einen Unterschied? Ich meine einer mehr oder weniger...“
„So sind nun mal die Regeln. Wir finanzieren uns jetzt über eure Gelder Jule, wie ein Unternehmen. Wer nicht zahlt, bekommt keine Leistung.“ Herr Schmidt sprach, wie im Unterricht.
„Es tut mir sehr leid.“, fügte er hinzu.
„Aber es würde doch keiner merken oder? Ich meine, ich mache in ein paar Monaten Abi. Dann, naja dann ist es eh vorbei.“
„Und dann kommen die nächsten, die nicht mehr zahlen können. Was sage ich denen? Außerdem...“, er räusperte sich. „Außerdem werden demnächst... so was wie Kontrolleure vorbei kommen. Wer illegale Schüler und Schülerinnen hat, muss Strafe zahlen.“
„Illegal.“, sagte ich und blickte ihn ungläubig an. Herr Schmidt tat mir leid. Es war ihm sichtlich unangenehm. Aber wie konnte man so sich so rückratlos diesen beschissenen Gesetzen beugen? Ich wurde auf einmal wütend.
„Was ist mit dem Recht auf Bildung? Sind wir kein Rechtsstaat mehr?“
„Ja. Unsere derzeitige Regierung interpretiert dieses Recht zur Zeit auf eine Grundbildung. Die Grundschulen werden normal weitergeführt.“, sagte Herr Schmidt traurig.
„Weißt du, in solchen Zeiten verlieren Werte und Ideale an Bedeutung. Wissen anstreben ist nicht mehr so wichtig, wie an der Front zu bestehen.“
„Hör mir jetzt gut zu Jule.“, Herr Schmidt lehnte sich erneut vor und sprach leise und eindringlich.
„Verlass das Land. Geh in die USA oder nach Ägypten oder Syrien, irgendwohin, wo sie sich Ausländer leisten können. Bitte dort um Asyl und versuch in die Schule zu kommen und einen internationalen Abschluss zu machen. Es wird nicht mehr lange dauern und der Krieg wird auch hier geführt werden.“ Er blickte aus dem Fenster, als erwartete er jemanden, der sein Ohr an die Scheibe hielt.
„Hier das ist ein Brief an deine Eltern. Das wär's dann.“, sagte er in normaler Lautstärke und reichte mir einen Umschlag. Ich stand auf. An der Tür blickte ich mich noch einmal um. Herr Schmidt setzte eine Lesebrille auf und betrachtete einen Stapel Papier. Der Stapel starrte zurück.
Ich ging raus, an Frau Möller vorbei, aus der Schultür, über den Schulhof. An der Schranke zum Parkplatz blickte ich mich um. Jakob stand am Fenster in der dritten Etage, der Naturwissenschaftsetage. Ich hielt meinen Arm mit dem Brief in die Höhe, drehte mich um und verließ das Schulgelände.
Meine Eltern nahmen die Nachricht mit Bestürzung entgegen. Sie machten sich große Sorgen, wann Leonie dran sein würde. Papa ging nochmal in die Schule und sprach mit Herrn Schmidt.
Dann ging er ins Rathaus und versuchte jemanden aufzutreiben, der zuständig war, doch er wurde an den Bund verwiesen. Seine Briefe wurden nie beantwortet. Mama hatte die Idee, mich sponsern zu lassen. Da ich so kurz vorm Abitur stand, wäre es ja nicht für lange. Doch die Geschäftsleute hatten eigene Probleme, da die Kaufkraft nachgelassen hatte und die großen Ketten verwiesen auf ihre Manager irgendwo in Deutschland für uns nicht erreichbar. Der Chefarzt im Krankenhaus zeigte sich irgendwann bereit, doch auf einmal wurden die Gehälter gekürzt und er teilte uns peinlich berührt mit, dass er ja auch seine eigenen Kinder stützen müsse. Mama verstand natürlich. Sie bedankte sich. Immer mehr Jugendliche landeten auf der Straße. Um sie darunter zu holen, dachte der Bund sich etwas Wunderbares aus. Sie bekamen eine Uniform, schliefen in Kasernen und lernten eine Waffe zu benutzen. Noch war das ein Angebot, doch immer mehr junge Menschen nahmen es an. Die Lebensmittelpreise stiegen weiter und die drei Mahlzeiten bei der Bundeswehr wurden immer verlockender.
Ich fing an im Krankenhaus zu putzen. Manchmal half ich auch beim Essen verteilen. Das brachte nicht viel, aber ein bisschen was. Papa hatte wieder Probleme mit dem Rücken. Die einzigen freien Stellen gab es bei Heckler & Koch und anderen Waffenherstellern, doch Papa konnte keine Maschine bedienen. Mama witzelte, er könne doch als Schneider anfangen – Grobmotoriker lernt Fädeln! Doch Papa schaffte es nur mit Müh und Not über diesen Scherz zu lachen.
Im April fielen die ersten Bomben. Frankreich hatte sich mit Spanien verbündet und versuchte den Druck auf Deutschland zu erhöhen. Die europäische Union existierte nicht weiter. Alle unsere Nachbarländer schlossen ihre Grenzen. Deutschland war dicht. Wer einen türkischen oder polnischen Pass hatte reiste aus. Wir hatten keinen türkischen oder polnischen Pass.
„Also ich kenn da diesen Typen.“, sagte Jakob und zündete sich eine Zigarette an. Wir saßen in meinem Zimmer auf dem Bett. Ich fing demonstrativ an zu husten, erhob mich und öffnete das Fenster. Jakob klopfte aufs Bett neben sich. Ich versuchte es mit einem bösen Blick, doch als er mich anlächelte setzte ich mich wieder.
„Ein Typ?“, fragte ich.
„Ja. Der bringt Leute nach Italien und von da aus mit dem Schiff nach Marokko.“
Ich blickte ihn ungläubig an. „Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Von Dortmund nach Gela in Italien sind es 2.324 Kilometer. Man braucht genau 23 Stunden. Dann geht’s mit dem Schiff weiter. Wir machen zwei Stopps. Einen auf Malta und einen auf Lampedusa.“
Ich blickte Jakob ins Gesicht. Mit seinen blonden Haaren und dem Sunnyboygesicht hätte er Werbung für Haargel machen können. Der neue Matt-Look mit extra Feuchtigkeit, wie vom Strand! Spürst du die Welle? Jetzt neu! Wann hatte dieses Gesicht aufgehört zu lächeln? Mein Jakob, der Kilometer zählte.
„Aber wie willst du nach Italien kommen? Die Grenzen sind dicht! Du kommst nicht mal in die Schweiz.“
„Ein Typ vom italienischen Konsulat schleust Leute im Kofferraum rüber.“
„Im Kofferraum?? Glaubst du echt, die durchsuchen die Autos nicht??“
„Der ist ein Diplomat oder sowas. Auf jeden Fall hat er Immunität.“
„Jakob es ist Krieg! Diplomatische Immunität hat Grenzen.“
„Ja, aber sie dürfen ihn nur durchsuchen, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt.“
„Deutschland mit dem Auto zu verlassen ist dann doch ein bisschen verdächtig oder?“
„Risiko. Bis jetzt sind zehn Leute rüber gekommen.“
„Und wie viele wurden geschnappt?“
Jakob wich meinem Blick aus. „Das hat er nicht gesagt.“, gab er zu.
Auf ein Mal war dieser Krieg näher als je zuvor. Ich bekam Panik. Wenn Jakob ging, würde ich ihn womöglich nie wieder sehen.
„Hör zu.“, sagte ich. „Was glaubst du denn wird dann passieren? Die in Marokko wollen uns doch überhaupt nicht. Die sind viel zu sehr damit beschäftigt ihren Reichtum zu vermehren oder Einfluss zu gewinnen. Die scheren sich doch nicht um ein paar dumme europäische Kinder, die noch nicht mal Arabisch sprechen!“
„Doch die scheren sich. Die hatten doch selbst Krieg. Die wissen wie das ist.“, widersprach er.
„Aber das ist fast 70 Jahre her! Da erinnert sich doch keiner mehr dran, wie das vor dem Arabischen Frühling und der kompletten Demokratisierung war.“
„Die erinnern sich sicher besser als wir. Wir hätten eine Chance Jule! Eine richtige Chance!“
„Was meinst du mit wir?!“, fragte ich entsetzt.
Da ging die Sirene los. Dortmund war bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht beschossen worden. Wir hatten die Sicherheitshinweise per Post bekommen. In der Tagesschau wurden sie jeden Abend wiederholt.
„Leonie, Jule, Jakob!“, schrie Mama aus dem Flur. Wir hasteten ins Treppenhaus, hinab in den Keller. Frau und Herr Ceylan standen schon vor der Tür. „Wir haben unseren Schlüssel vergessen.“, sagte Frau Ceylan. Papa trat nach vorn und öffnete die Tür. „Wir sollten sie nicht mehr abschließen“, sagte er. Herr Ceylan murmelte zustimmend. Im Gänsemarsch trippelten wir die Kellertreppe hinunter. „Frau Bärenbach!“, rief Papa überrascht.
Frau Bärenbach aus dem Erdgeschoss saß in der offenen Tür ihrer Kellerparzelle auf einem weißen Hocker und hielt ihren grauen fetten Kater umklammert.
„Haben Sie die Kellertür etwa von innen abgeschlossen?“, fragte Papa.
„Ja.“, sagte Frau Bärenbach.
Mama und Frau Ceylan tauschten einen entnervten Blick.
Während Papa versuchte Frau Bärenbach zu überzeugen, nächstes Mal doch zu warten, bis alle Nachbarn unten waren, trudelte der Rest des Hauses ein. Schön geordnet verkrümelte sich jeder in seine Parzelle. So saßen wir, umgeben von unserem Plunder und ärgerten uns, dass wir keine Wasserflasche mitgenommen hatten. Ich stöberte gerade in einer Kiste alter Kinderbücher von Leonie und mir, als wir einen gedämpften Knall hörten und eine Erschütterung spürten, wie ein leichtes Erdbeben.
„Wo war das?“, fragte Leonie. „War das weit weg?“
„Ich hoffe.“, sagte Mama.
„Warum sind Sie noch hier?“, fragte Jakob Herrn Ceylan. „Stammen Sie nicht aus der Türkei?“
„Ja tun wir.“, nickte Herr Ceylan. „Aber meine Frau und ich haben unsere türkischen Pässe vor langer Zeit abgegeben. Wir sind hier geboren, unsere Tochter ist hier geboren. Unsere Eltern haben ihre Pässe behalten, aber die sind auch schon vor zehn Jahren gestorben. Wir sind Deutsche. Wir haben nur den Namen und ein paar letzte Brocken türkisch.“
„Und deine Vorliebe für Sucuk!“, lachte Frau Ceylan und piekste ihren Mann in seinen Rettungsring.
„Naja, was man als Kind gern isst...“, weiter kam er nicht. Der nächste Knall ertönte. Etwas lauter diesmal. Und die Erschütterung etwas heftiger. War das ein Zeichen dafür, dass die Bombe näher eingeschlagen war? Oder war sie nur größer? Gab es große und kleine Bomben? Wer baute diese Dinger? Wer zum Teufel konnte es mit sich vereinbaren so etwas herzustellen? Ich fragte mich, ob Jakob gehen würde. Ich fragte mich, ob es wirklich möglich war, die Grenze zu überqueren. Ich fragte mich, ob ich mitgehen würde.
Und auf einmal wusste ich, wenn das hier so weiter ginge, würde ich alles tun, um wieder in Sicherheit zu leben. Das müssten die anderen Staaten doch verstehen. Marokko, Ägypten, Syrien, USA. Der Inbegriff von Freiheit und Sicherheit. Die müssten mich einfach aufnehmen. Ich war mir sicher, ich würde bei Bevölkerung, Staat und Verwaltung auf Verständnis und Empathie stoßen. Was anderes war doch gar nicht möglich. Oder?
Schön vielschichtig und ein spannender Perspektivwechsel. Außerdem aber auch so gut geschrieben, dass ich gerne wüsste, wie es mit den Figuren weiter geht. Was wird aus ihnen?
AntwortenLöschenWoah - Gänsehaut... kann mich Jay nur anschließen. Wahnsinnig dankbar für diesen Blickwinkel.
AntwortenLöschenGeile Story für den Unterrricht.
AntwortenLöschenSchöne Grüße aus Düsseldorf
Stark. Guter Idee und toll geschrieben. Ich bin Fan
AntwortenLöschen