Erinnerungen
Ich sortiere. Ich schmeiße weg und behalte. Ich kuratiere.
Was ist wichtig? Was ist Müll? Was verdient zu bleiben und was ist wertlos?
Ich fühle mich seltsam. Ich habe schon lange nicht mehr aufgeräumt. Ich habe Tomte angemacht. Ich weiß, füchterlich pathetisch. Aber es fühlt sich passend an. Trennen von Erinnerungen, erinnert werden an die Vergangenheit. Nostalgie, ein bisschen Schmerz und ein komisches Gefühl. Mir fällt auf, ich kann mich nicht von Dingen trennen. Dabei war die Aufgabe doch einfach: Einen Schrank ausmisten. Tschüß Biochemie, hallo Journalismus. Hallo neues Leben, byebye altes Leben.
Ich nehme Dinge in die Hand. Jedes Teil ist wie ein kleiner Flashback. Eine Eintrittkarte in die Tiefen meiner Hippocampi. Ich entdecke ein Schaubild. Ich hab es dir gemalt, als wir uns gestritten hatten. Dabei kann ich doch gar nicht malen. Aber ich wollte dir zeigen, wie ich mich fühle. Wie ich diese ganze Situation wahrnehme. Du hast sehr viel gedacht. Ich wohl sehr wenig. Dabei sage ich immer, ich zerdenke alles.
Ich finde Aufzeichnungen. Mehrere Blöcke voll mit Notizen von chemischen Strukturen. Organische Chemie. Mechanismen und Syntheseanalysen. Ich verstehe sie kaum noch. Aber wenn ich darauf blicke: Flashback. Ich erinnere mich, wie ich wochenlang gelernt hatte. Wie ich in Sporthose den Vollhardt, mein Chemiebuch, in der Küche meiner WG wälzte. 1452 Seiten. Und ich habe sie gelesen. Durchgearbeitet. Notizen beim Lesen gemacht und die Aufgaben bearbeitet. Zweimal, vielleicht sogar zweieinhalbmal. In der Küche und in der Bib. Während OC I hatte ich sogar noch bei Mama gewohnt. Ich erinnere mich an einen Abend. Ich lernte bis tief in die Nacht. Es war 2, vielleicht 3 Uhr oder später, ich weiß es nicht mehr. Ich machte Feierabend. Ich ging auf den Balkon und es war wunderbar ruhig. In der Woche schliefen alle Menschen um diese Uhrzeit, zumindest in diesem Vorrort. Ich rauchte eine Zigarette, meine Mama schlief auf der anderen Seite der Wohnung.
Das ist fast 5 Jahre her. Glaube ich.
Eine Zigarette in Bochum-Höntrop. Meine Mutter wohnt dort nicht mehr. Verrückt. Irgendwie.
Ich entdecke Kataloge. Auslandssemester. Neuseeland und Australien. Schon nach der Schule hatte ich mir Kram für Work & Travel bestellt. Im Studium dachte ich über ein Auslandssemester oder ein Praktikum nach. April 2016. Solange ist das gar nicht her. Verrückt, wie schnell sich Pläne ändern. Wie schnell sich Leben ändern. Wie Dinge passieren. Irgendwann, irgendwann werde ich meine Reise noch bekommen.
Ein Foto aus dem Labor. Es ist während des physikalisch-chemischen Praktikums im 4. Semester entstanden. Ich hatte damals angefangen meine Fühler auszustrecken, über den Tellerrand zu blicken und hatte einen Kurs für analoge schwarz-weiß Fotografie und die Entwicklung im Labor belegt. Im Labor des Physikalisch-chemischen Praktikums habe ich ein Foto geschossen. Ich mag es immernoch sehr gerne. Ich erinnere mich noch an die Verzweiflung, die ich gespürt habe. Jede Woche, als ich versuchte die Protokolle zu schreiben. Es war eine aufwendige statistische Aufarbeitung nötig. Ich hatte mit einem meiner besten Freunde, häufig die Nächte durchgearbeitet mit gelegentlichen Skype Telefonaten. Am Ende hat es doch rigendwie geklappt, weil es klappen musste. Aber an dieses "Ich weiß nicht weiter. Ich weiß nicht was ich hier schreiben soll, wie ich das Aufarbeiten muss und morgen ist Deadline. Das pack ich nie"-Gefühl. Daran erinnere ich mich noch sehr gut.
Weitere Aufzeichnungen. Bilder von Gelelektrophoresen. Ich erinnere ich, wie ich diese Aufzeichnungen im Park machte. Ich erinnerte mich an die Vorlesung und die Umstände. An mein Auf- und Ablaufen in der Wohnung und das Abfragen von mir selbst im Geist. An die Fragen und die unglaubliche Arbeit, die in diesem Gekritzel steckt. Laborbücher. Aufzeichnungen für die mündliche Prüfung. Das Gefühl als ich zum zweiten Mal durchgefallen war, bevor ich für einen Monat nach Neuseeland gegangen bin. Wie ich motiviert in die Prüfung kam mit dem Gefühl gut vorbereitet gewesen zu sein und grandios scheiterte. Obwohl ich viel wusste. Wie ich völlig verzweifelt nach Hause kam und um elf Uhr morgens Bier trank und einen Joint rauchte. Wie ich zum ersten Mal fast aufgab.
Ich entdecke Aufzeichnungen von Biochemie I. Neben der mündlichen Prüfung, die einzige Klausur in der ich durchgefallen bin, bei der es sich nicht um einen Freischuss gehandelt hat und ich nicht noch im selben Semester wiederholen konnte. Ich erinnere mich wie ich ein Jahr später all die verdammten Metabolismus-Kreisläufe auswendig lernen musste. All die Mechanismen dieser verfluchten Enzyme, wie sie welchen Stoff, wie spalteten. Wie ich dort hart arbeitete, um am Ende unter den magischen 2,5-Schnitt für den Master zu kommen. Ich erinnere mich an das glorreiche Semester, in dem ich eine 1,3 in Biochemie III schrieb, eine 1,0 in Onkologie und Physikalische Chemie I wiederholte und statt einer 4,0 eine 1,7 schrieb. Darauf bin ich bis heute sehr stolz, denn es war Fleißarbeit. Pathetisch-wissenschaftlich ausgedrückt: Mit proportional steigendem Leid und Selbstdiziplin stieg die Note.
Ich schaffte am Ende nicht nur die erforderliche 2,4, sondern sogar die Abschlussnote 2,3. Das war ein sehr hart erarbeiteter Sieg. Aber ein Sieg.
Das Expose zu meiner Bachelorarbeit. Ich erinnere mich, wie viel Spaß die Bachelorarbeit gemacht hat. Wieviel Herzblut ich darein gesteckt hatte. Ich erinnere mich, wie ich an einem Tag bis 23 Uhr im Labor blieb. Alleine und arbeitete, weil es Spaß machte und ich das Gefühl hatte, irgendwas zu bewirken. Wie ich Kaffe trank als ich auf meinen Westernblot wartete und im Büro eine Folge Dr. Hosue streamte. Wie ich aus dem fünften Stock auf den Campus RUB hinabschaute als es bereits dunkel war und nur einzelne Fenster beleuchtet waren. Draußen fiel Schneeregen. Fast wie im Film. Ich erinnere mich auch an den Schreibprozess. An die ganzen Orte, an dem ich sie schrieb. In der Badewanne, am Küchentisch meiner Tante in Ennepetal, an meinem Computer. Ich erinnere mich an die Recherche und die experimentellen Rückschläge. Aber auch an die gute Zeit mit meinen Kollegen. Außerdem erinnere ich mich an die erste Maus, die ich getötetet habe.
Ich sortiere. Ich schmeiße weg und behalte. Ich kuratiere.
Was ist wichtig? Was ist Müll? Was verdient zu bleiben und was ist wertlos? Mir fällt auf, ich kann mich nicht von Dingen trennen. Dabei war die Aufgabe doch einfach: Einen Schrank ausmisten. Tschüß Biochemie, hallo Journalismus. Hallo neues Leben, byebye altes Leben. Es ist wohl tatsächlich ein Abschied von Biochemie.
Ich weiß, es mag albern klingen. Aber diese Dinge sind Teil von mir. Jeder Block, jeder Zettel, alles. Es fühlt sich an, als würde ich Schlüssel wegwerfen. Schlüssel zu Erinnerungen. Die Türen fallen zu und ich werde sie vielleicht nie wieder öffnen können.
Meine kleine konstruierte Wirklichkeit. Ich fange an zu sortieten. Ich hefte Dinge zusammen, die nicht zusammen gehören. Ich verändere meine Vergangenheit. Wenn ich diesen Ordner in ein paar Jahren nochmal in die Hand nehme, werde ich nicht wissen, dass ich er aus zwei verschiedenen Dingen besteht. Ich habe Angst zuviel zu verändern und zuviel zu vergessen.
Ich schmeiße Aufzeichnungen weg.Quasi Wissen. Es fühlt sich an, als würde ich Bücher verbrennen.
Ich lege einen Ordner an: "Biochemie-Handwerk". Ich sammle Protokolle. Dieses Wissen gab es nicht in Büchern. Man hat sie im Labor von seinem Betreuern mitgeteilt bekommen oder selbst durch Ausprobieren erfahren. Oft wusste man zwar wie eine Methode theoretisch funktionierte, aber wie das praktisch durchzuführen war, stand auf einem anderen Blatt. Das ist wertvolles Wissen, dass es zu bewahren gilt, sagt mein Kopf. Außerdem findest du solche detaillierten Protokolle nur selten im Netz. Vielleicht irgendwann, wenn es mich wieder in ein Labor zieht, werde ich froh sein diese Protokolle behalten zu haben.
Die zahlreichen ausgedruckten Publikationen sind unsortiert wertlos. Brauche ich etwas, kann ich es mit Recherche im Netz finden. Die Publikationen kommen also weg. Wie ein Blinder, der Blindenschrift liest, fühle ich ein letztes Mal mit meiner Hand über die Seiten. Ich erinnere mich nocheinmal wie ich diese Paper las. In der Uni, in der Sonne im Westpark oder kurz vor knapp in der Bahn.
Ich blättere durch vollgeschriebe Collegeblöcke. Jedes Mal ein kleiner Flashback. Jedes Mal Überwindung, sie wegzuschmeißen. Bücherverbrennung. Einschmelzen von Schlüsseln. Jedes Mal dieses Gefühl in meiner Brust. Es fühlt sich an wie der kleine Burder von Lampenfieber.
Ich finde einen Brief von dir. Du hast ihn geschrieben, bevor du nach Neuseeland bist. Du hast ein Foto von uns, bevor wir zusammen waren hineingetan. Wir lachen. Es ist ein schönes Foto. Auf die Rückseite hast du I love you mit einem Herz gekritzelt. Ich finde auch einen Brief von dir aus Neuseeland. Ich packe sie in den "wichtige Erinnerungen-Umschlag". Meine Hände zittern ein bisschen und ich habe Pudding-Knie. Immernoch, nach fast anderthalb Jahren. Auch verrückt. Vielleicht ist es auch normal, wenn man solange zusammen war und geballte Emotion auf Papier gebannt wiederentdeckt. Wer weiß. Außerdem hab ich mich mit dem Ende von uns nie wirklich beschäftigt. Ich hab e mir seitdem einfach soviel Dinge vorgenommen, dass ich keine Zeit hatte, mich damit zu beschäftigen. Ich find Trauerarbeit doof.
Ich finde eine Abfrage Liste und gehe sie durch. Das meiste weiß ich noch. Wenn auch nicht detailiert genug für eine richtige Klausur.
Ich finde eine Ausgabe der Spektrum der Wissenschaft von Dezember 1982. Ich hatte sie mal auf bei einem Trödelhändler mit meiner Exfreundin gekauft. Darin enthalten waren einige (nun natürlich überholte) Publikationen der Neurowissenschaften. Ich hatte schon immer eine Schwäche für auf Papier gebanntes Wissen..
Ein Dinosaurier Malbuch. Das habe ich von einem Professor bekommen, bevor ich zur Schule gegangen bin. Meine Oma hat dort geputzt und mich manchmal mitgenommen. Ich erinnere mich, dass ich mich dabei gelegentlich mit ihm unterhalten habe. Er war schon sehr alt, zumindest habe ich das damals so wahrgenommen. Ich erinnere mich noch wie meine Mutter irgendwann behauptete, er sagte sei sei sehr klug. Er hatte mir dieses Dinosaurier-Malbuch geschenkt. Es zeigt Schritt für Schritt, wie man Dinosaurier zeichnet. Ich glaube ich hatte mich oft über Dinosaurer mit ihm unterhalten. Ich finde zwei, drei weitere Dinge als ich ein Kind war. Ich muss grinsen.
Ich finde weitere Dinge von Dir. Bilder von uns. Briefe und Postkarten. Ich überfliege sie kurz. Ich bin überfordert. Ich habe Herzrasen. Ich hasse das. Es fühlt sich wie Angst an. Warum sollte ich Angst haben? Ich zittere und meine Beine sind schwach. Ich geh aus der Wohnung und atme im Treppenhaus ein paar mal tief ein und wieder aus. Ich werde diese Spannung nicht los. Ich gehe zum Kiosk und kaufe Blättchen und Tabak. Ein schlechtes Zeichen. Ich hab seit zwei Monaten keinen Tabak mehr besessen. Meine Wohnung ist voll mit Kram. Fotos und Briefen. Erinnerungen und Papier. Ich habe es beim sortieren in der ganzen Wohnung verteilt. Ich rauche und kann nicht weitermachen. Ich kann kaum tippen. Ich wünschte ich hätte den Schrank niemals aufräumen wollen.
Ich will nicht in der Mitte aufhören und drehe alle Fotos von dir um. Ich widme mich zuerst den unwichtigen Sachen und schmeiße weitere Collegeblöcke und Briefe von irgendwelchen Institutionen weg, von dennen ich dachte die seien vielleicht wichtig. Waren sie nicht. Ich sortiere die leergeworden Ordner und Folien in entsprechende Fächer in meinen Schrank.
Schmeiße viel Biochemie-Kram weg. Alle Erinnerungen von dir tue ich in meine "wichtige Erinnerungen-Umschlag".
Was ist wichtig? Was ist Müll? Was verdient zu bleiben und was ist wertlos?
Ich fühle mich seltsam. Ich habe schon lange nicht mehr aufgeräumt. Ich habe Tomte angemacht. Ich weiß, füchterlich pathetisch. Aber es fühlt sich passend an. Trennen von Erinnerungen, erinnert werden an die Vergangenheit. Nostalgie, ein bisschen Schmerz und ein komisches Gefühl. Mir fällt auf, ich kann mich nicht von Dingen trennen. Dabei war die Aufgabe doch einfach: Einen Schrank ausmisten. Tschüß Biochemie, hallo Journalismus. Hallo neues Leben, byebye altes Leben.
Ich nehme Dinge in die Hand. Jedes Teil ist wie ein kleiner Flashback. Eine Eintrittkarte in die Tiefen meiner Hippocampi. Ich entdecke ein Schaubild. Ich hab es dir gemalt, als wir uns gestritten hatten. Dabei kann ich doch gar nicht malen. Aber ich wollte dir zeigen, wie ich mich fühle. Wie ich diese ganze Situation wahrnehme. Du hast sehr viel gedacht. Ich wohl sehr wenig. Dabei sage ich immer, ich zerdenke alles.
Ich finde Aufzeichnungen. Mehrere Blöcke voll mit Notizen von chemischen Strukturen. Organische Chemie. Mechanismen und Syntheseanalysen. Ich verstehe sie kaum noch. Aber wenn ich darauf blicke: Flashback. Ich erinnere mich, wie ich wochenlang gelernt hatte. Wie ich in Sporthose den Vollhardt, mein Chemiebuch, in der Küche meiner WG wälzte. 1452 Seiten. Und ich habe sie gelesen. Durchgearbeitet. Notizen beim Lesen gemacht und die Aufgaben bearbeitet. Zweimal, vielleicht sogar zweieinhalbmal. In der Küche und in der Bib. Während OC I hatte ich sogar noch bei Mama gewohnt. Ich erinnere mich an einen Abend. Ich lernte bis tief in die Nacht. Es war 2, vielleicht 3 Uhr oder später, ich weiß es nicht mehr. Ich machte Feierabend. Ich ging auf den Balkon und es war wunderbar ruhig. In der Woche schliefen alle Menschen um diese Uhrzeit, zumindest in diesem Vorrort. Ich rauchte eine Zigarette, meine Mama schlief auf der anderen Seite der Wohnung.
Das ist fast 5 Jahre her. Glaube ich.
Eine Zigarette in Bochum-Höntrop. Meine Mutter wohnt dort nicht mehr. Verrückt. Irgendwie.
Ich entdecke Kataloge. Auslandssemester. Neuseeland und Australien. Schon nach der Schule hatte ich mir Kram für Work & Travel bestellt. Im Studium dachte ich über ein Auslandssemester oder ein Praktikum nach. April 2016. Solange ist das gar nicht her. Verrückt, wie schnell sich Pläne ändern. Wie schnell sich Leben ändern. Wie Dinge passieren. Irgendwann, irgendwann werde ich meine Reise noch bekommen.
Ein Foto aus dem Labor. Es ist während des physikalisch-chemischen Praktikums im 4. Semester entstanden. Ich hatte damals angefangen meine Fühler auszustrecken, über den Tellerrand zu blicken und hatte einen Kurs für analoge schwarz-weiß Fotografie und die Entwicklung im Labor belegt. Im Labor des Physikalisch-chemischen Praktikums habe ich ein Foto geschossen. Ich mag es immernoch sehr gerne. Ich erinnere mich noch an die Verzweiflung, die ich gespürt habe. Jede Woche, als ich versuchte die Protokolle zu schreiben. Es war eine aufwendige statistische Aufarbeitung nötig. Ich hatte mit einem meiner besten Freunde, häufig die Nächte durchgearbeitet mit gelegentlichen Skype Telefonaten. Am Ende hat es doch rigendwie geklappt, weil es klappen musste. Aber an dieses "Ich weiß nicht weiter. Ich weiß nicht was ich hier schreiben soll, wie ich das Aufarbeiten muss und morgen ist Deadline. Das pack ich nie"-Gefühl. Daran erinnere ich mich noch sehr gut.
Weitere Aufzeichnungen. Bilder von Gelelektrophoresen. Ich erinnere ich, wie ich diese Aufzeichnungen im Park machte. Ich erinnerte mich an die Vorlesung und die Umstände. An mein Auf- und Ablaufen in der Wohnung und das Abfragen von mir selbst im Geist. An die Fragen und die unglaubliche Arbeit, die in diesem Gekritzel steckt. Laborbücher. Aufzeichnungen für die mündliche Prüfung. Das Gefühl als ich zum zweiten Mal durchgefallen war, bevor ich für einen Monat nach Neuseeland gegangen bin. Wie ich motiviert in die Prüfung kam mit dem Gefühl gut vorbereitet gewesen zu sein und grandios scheiterte. Obwohl ich viel wusste. Wie ich völlig verzweifelt nach Hause kam und um elf Uhr morgens Bier trank und einen Joint rauchte. Wie ich zum ersten Mal fast aufgab.
Ich schaffte am Ende nicht nur die erforderliche 2,4, sondern sogar die Abschlussnote 2,3. Das war ein sehr hart erarbeiteter Sieg. Aber ein Sieg.
Das Expose zu meiner Bachelorarbeit. Ich erinnere mich, wie viel Spaß die Bachelorarbeit gemacht hat. Wieviel Herzblut ich darein gesteckt hatte. Ich erinnere mich, wie ich an einem Tag bis 23 Uhr im Labor blieb. Alleine und arbeitete, weil es Spaß machte und ich das Gefühl hatte, irgendwas zu bewirken. Wie ich Kaffe trank als ich auf meinen Westernblot wartete und im Büro eine Folge Dr. Hosue streamte. Wie ich aus dem fünften Stock auf den Campus RUB hinabschaute als es bereits dunkel war und nur einzelne Fenster beleuchtet waren. Draußen fiel Schneeregen. Fast wie im Film. Ich erinnere mich auch an den Schreibprozess. An die ganzen Orte, an dem ich sie schrieb. In der Badewanne, am Küchentisch meiner Tante in Ennepetal, an meinem Computer. Ich erinnere mich an die Recherche und die experimentellen Rückschläge. Aber auch an die gute Zeit mit meinen Kollegen. Außerdem erinnere ich mich an die erste Maus, die ich getötetet habe.
Ich sortiere. Ich schmeiße weg und behalte. Ich kuratiere.
Was ist wichtig? Was ist Müll? Was verdient zu bleiben und was ist wertlos? Mir fällt auf, ich kann mich nicht von Dingen trennen. Dabei war die Aufgabe doch einfach: Einen Schrank ausmisten. Tschüß Biochemie, hallo Journalismus. Hallo neues Leben, byebye altes Leben. Es ist wohl tatsächlich ein Abschied von Biochemie.
Ich weiß, es mag albern klingen. Aber diese Dinge sind Teil von mir. Jeder Block, jeder Zettel, alles. Es fühlt sich an, als würde ich Schlüssel wegwerfen. Schlüssel zu Erinnerungen. Die Türen fallen zu und ich werde sie vielleicht nie wieder öffnen können.
Meine kleine konstruierte Wirklichkeit. Ich fange an zu sortieten. Ich hefte Dinge zusammen, die nicht zusammen gehören. Ich verändere meine Vergangenheit. Wenn ich diesen Ordner in ein paar Jahren nochmal in die Hand nehme, werde ich nicht wissen, dass ich er aus zwei verschiedenen Dingen besteht. Ich habe Angst zuviel zu verändern und zuviel zu vergessen.
Ich schmeiße Aufzeichnungen weg.Quasi Wissen. Es fühlt sich an, als würde ich Bücher verbrennen.
Ich lege einen Ordner an: "Biochemie-Handwerk". Ich sammle Protokolle. Dieses Wissen gab es nicht in Büchern. Man hat sie im Labor von seinem Betreuern mitgeteilt bekommen oder selbst durch Ausprobieren erfahren. Oft wusste man zwar wie eine Methode theoretisch funktionierte, aber wie das praktisch durchzuführen war, stand auf einem anderen Blatt. Das ist wertvolles Wissen, dass es zu bewahren gilt, sagt mein Kopf. Außerdem findest du solche detaillierten Protokolle nur selten im Netz. Vielleicht irgendwann, wenn es mich wieder in ein Labor zieht, werde ich froh sein diese Protokolle behalten zu haben.
Die zahlreichen ausgedruckten Publikationen sind unsortiert wertlos. Brauche ich etwas, kann ich es mit Recherche im Netz finden. Die Publikationen kommen also weg. Wie ein Blinder, der Blindenschrift liest, fühle ich ein letztes Mal mit meiner Hand über die Seiten. Ich erinnere mich nocheinmal wie ich diese Paper las. In der Uni, in der Sonne im Westpark oder kurz vor knapp in der Bahn.
Ich blättere durch vollgeschriebe Collegeblöcke. Jedes Mal ein kleiner Flashback. Jedes Mal Überwindung, sie wegzuschmeißen. Bücherverbrennung. Einschmelzen von Schlüsseln. Jedes Mal dieses Gefühl in meiner Brust. Es fühlt sich an wie der kleine Burder von Lampenfieber.
Ich finde einen Brief von dir. Du hast ihn geschrieben, bevor du nach Neuseeland bist. Du hast ein Foto von uns, bevor wir zusammen waren hineingetan. Wir lachen. Es ist ein schönes Foto. Auf die Rückseite hast du I love you mit einem Herz gekritzelt. Ich finde auch einen Brief von dir aus Neuseeland. Ich packe sie in den "wichtige Erinnerungen-Umschlag". Meine Hände zittern ein bisschen und ich habe Pudding-Knie. Immernoch, nach fast anderthalb Jahren. Auch verrückt. Vielleicht ist es auch normal, wenn man solange zusammen war und geballte Emotion auf Papier gebannt wiederentdeckt. Wer weiß. Außerdem hab ich mich mit dem Ende von uns nie wirklich beschäftigt. Ich hab e mir seitdem einfach soviel Dinge vorgenommen, dass ich keine Zeit hatte, mich damit zu beschäftigen. Ich find Trauerarbeit doof.
Ich finde eine Abfrage Liste und gehe sie durch. Das meiste weiß ich noch. Wenn auch nicht detailiert genug für eine richtige Klausur.
Ich finde eine Ausgabe der Spektrum der Wissenschaft von Dezember 1982. Ich hatte sie mal auf bei einem Trödelhändler mit meiner Exfreundin gekauft. Darin enthalten waren einige (nun natürlich überholte) Publikationen der Neurowissenschaften. Ich hatte schon immer eine Schwäche für auf Papier gebanntes Wissen..
Ein Dinosaurier Malbuch. Das habe ich von einem Professor bekommen, bevor ich zur Schule gegangen bin. Meine Oma hat dort geputzt und mich manchmal mitgenommen. Ich erinnere mich, dass ich mich dabei gelegentlich mit ihm unterhalten habe. Er war schon sehr alt, zumindest habe ich das damals so wahrgenommen. Ich erinnere mich noch wie meine Mutter irgendwann behauptete, er sagte sei sei sehr klug. Er hatte mir dieses Dinosaurier-Malbuch geschenkt. Es zeigt Schritt für Schritt, wie man Dinosaurier zeichnet. Ich glaube ich hatte mich oft über Dinosaurer mit ihm unterhalten. Ich finde zwei, drei weitere Dinge als ich ein Kind war. Ich muss grinsen.
Ich finde weitere Dinge von Dir. Bilder von uns. Briefe und Postkarten. Ich überfliege sie kurz. Ich bin überfordert. Ich habe Herzrasen. Ich hasse das. Es fühlt sich wie Angst an. Warum sollte ich Angst haben? Ich zittere und meine Beine sind schwach. Ich geh aus der Wohnung und atme im Treppenhaus ein paar mal tief ein und wieder aus. Ich werde diese Spannung nicht los. Ich gehe zum Kiosk und kaufe Blättchen und Tabak. Ein schlechtes Zeichen. Ich hab seit zwei Monaten keinen Tabak mehr besessen. Meine Wohnung ist voll mit Kram. Fotos und Briefen. Erinnerungen und Papier. Ich habe es beim sortieren in der ganzen Wohnung verteilt. Ich rauche und kann nicht weitermachen. Ich kann kaum tippen. Ich wünschte ich hätte den Schrank niemals aufräumen wollen.
Ich will nicht in der Mitte aufhören und drehe alle Fotos von dir um. Ich widme mich zuerst den unwichtigen Sachen und schmeiße weitere Collegeblöcke und Briefe von irgendwelchen Institutionen weg, von dennen ich dachte die seien vielleicht wichtig. Waren sie nicht. Ich sortiere die leergeworden Ordner und Folien in entsprechende Fächer in meinen Schrank.
Schmeiße viel Biochemie-Kram weg. Alle Erinnerungen von dir tue ich in meine "wichtige Erinnerungen-Umschlag".
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