Gesprächsstoff #003 - die längste Minute

Was war die "längste Minute", die du je überstehen musstest?

Tobi sieht das so:
Es gab zwei Situationen, wo die Minuten ungefähr gleich lang und kritisch waren.

Die erste Minute war im Februar diesen Jahres. Meine Ausbildungstruppe und ich waren in der IHK zu Duisburg und haben unsere Ergebnisse der Abschlussprüfung mitgeteilt bekommen.

Wir wurden in zwei Gruppen aufgeteilt und dann in einen separaten Raum geführt, wo wir die Ergebnisse bekommen haben. Zumindest die, die bestanden haben. Aber das weiß man ja vorher nicht.

Der Gang in den separaten Saal, das Aufreihen und das Abwarten hat vielleicht etwas mehr als eine Minute gedauert aber Holladibolla: Bei einem Puls von mindestens 200 und kleinen Schweißperlen auf der Stirn ist es letztendlich egal, es kommt dir eh alles wie eine Ewigkeit vor.

Die zweite Situation beinhaltet eine Kiste Bier und eine S- Bahn, die ohne Toilette unterwegs ist. Ums kurz zu machen: Ich hatte noch einen Halt bis zum Zielbahnhof und musste so dermaßen dringend pinkeln, dass ich schon kurz davor stand, zu beten.

Aber in beiden Fällen ist es grade noch so gut gegangen ;-)


Jan sagt:

Mein Vater wurde von einem zu schnellen Fahrzeug erfasst. Er war mit dem Kühler am
Schienenbein getroffen worden, ist mit dem Kopf auf die Frontscheibe geschlagen, dann durch die Luft gewirbelt und auf seinem Gesicht ein paar Meter vor dem Fahrzeug auf den Boden aufgeschlagen. Seine Einkäufe waren über die gesamte Straße verteilt, irgendwelche unwichtigen Lakritzsüßigkeiten.

Ich lief erst zu ihm. Alles roch nach Blut. Falls ihr euch fragt, es ist ein metallischer Geruch, wie rostige Oberflächen. Ich erinnere mich, dass irgendjemand zu ihm gekommen war und erste Hilfe leistete. Ich hatte auch mein Telefon am Kopf, stand mitten auf der Straße. Ich setzte einen Notruf ab, wenn auch ich mich nicht mehr an dieses Telefonat erinnere. Später sagte man mir, dass viele Notrufe für die Situation gleichzeitig eingingen.

Dann räumte ich vollkommen sinnlos die Einkäufe zur Seite, weil ich nicht wollte, dass noch etwas passierte. Arbeitskollegen meines Vaters, die zufällig auch da waren, sperrten mit ihren Abschleppwagen die Unfallstelle so ab, dass keine Fahrzeuge mehr hätten hineinfahren können. Einer der Fahrer war auch ehrenamtlich beim roten Kreuz. Auch er leistete erste Hilfe. Vermutlich passieren die Dinge in anderer Reihenfolge. In meinem Kopf ist alles gleichzeitig gespeichert. 

Während ich Lakritze an den Bordstein schob, vollkommen unter Schock, kam ein fremder Mann und fragte mich, ob den alles okay ist. Ich erinnere mich nur daran, sehr feste umarmt, ja fast schon zerdrückt zu werden, während ich schrie und weinte.

Es kamen Rettungskräfte, ein großer Koffer mit Fläschen wurde geöffnet, ich ging von selbst wieder von der Stelle weg, weil ich innerlich wusste, dass ich hier nur störe. Später erfahre ich, dass mein Vater vielleicht nur überlebt hat, weil auf dem anliegenden Flohmarkt zufälligerweise zwei iranische Chirurgen waren, die sofort zur Hilfe eilten. Ich bereue, dass ich mich nie bedanken konnte.

Dann irgendwann saß ich in einem Rettungswagen und rief in der Firma an, dass jemand zu meiner Mutter hoch sollte, bevor ich sie anrufe. Plötzlich war ich wieder sehr sortiert. Ich rief Thomas, einen meiner Engsten, an, weil er zum Uni Klinikum kommen musste, damit ich das durchstehen kann. Als dann jemand bei meiner Mutter war, konnte ich ihr auch am Telefon sagen was geschehen war.

Im Polizeibericht und im Unfallbericht stand, dass das alles in Fünf Minuten passiert ist. Mein Vater hat übrigens überlebt. Vom Gefühl her dauert aber dieser eine Moment noch bis heute an.

Malte denkt sich:


Zeit, die plötzlich ewig dauert, ist tatsächlich ein immer wiederkehrender Alptraum von mir. Es passiert immer wieder, dass ich in einem Traum auf eine Straße falle, in der Ferne ein Auto sehe und mich plötzlich nur noch in Zeitlupe bewegen kann.

Das ist tatsächlich das, was am ehesten an das Thema der hiesigen Frage herankommt. In der jüngeren Vergangenheit fällt mir selbst nach langem Überlegen nichts ein, wo die Zeit für mich merklich langsamer verstrich.

Erst, wenn ich wirklich weit in meine Kindheit gehe, gibt es dort eine Situation, die noch völlig klar in meiner Erinnerung sitzt: In der vierten Klasse war ich auf einem Schulausflug im Sauerland. In der Jugendherberge kaufte ich mir eine Flasche Fanta, die ich im Prinzip direkt nach dem Erhalt schon zu Boden fallen ließ. Der komplette Sturz der Flasche und das Zerbersten auf dem Boden haben sich vor meinen Augen in Zeitlupe abgespielt, ich stand auch danach noch wie erstarrt und habe auf die Scherben gestarrt, bis meine Lehrerin mich ankeifte, dass ich doch mal die Scherben aufsammeln könnte.

Ich habe keine Ahnung, wieso mir dieses Erlebnis noch immer so präsent im Kopf ist, noch wieso es mich damals so sehr schockiert hat. Meine Vermutung ist, dass ich als Kind riesige Probleme damit hatte, mir einzugestehen, etwas nicht zu können oder Fehler zu machen. Scheitern war für mich absolut schrecklich. Die Tatsache, dass ich in aller Öffentlichkeit nicht dazu in der Lage war, eine Flasche zu tragen, schien mich völlig zu paralysieren. Ich weiß noch, wie ich danach dann eine Scherbe aufhob, eine Mutter dazu kam und mir mit dem Rest half. Als ich ihr die letzte Scherbe geben wollte, die ich die ganze Zeit in der Hand hielt, war alles voller Blut, da ich mich die ganze Zeit, ohne es zu merken, komplett um dieses Stück Glas verkrampft habe.

Während des Schreibens bin ich wirklich erstaunt, wie deutlich sich alles wieder vor meinem inneren Auge abspielt, auch wenn Erinnerungen natürlich immer trügerisch sein können.

Andy erzählt:

Ich war sehr jung. Ich erinnere mich leider nicht, wie alt genau ich gewesen bin. Ich denke fünf oder sechs. Vielleicht bin ich aber auch schon sieben oder acht gewesen. Ich weiß es nicht.

Es war die Nacht von Silvester auf Neujahr. Ich war mit meiner Mutter und meinem Vater wie jedes Jahr oder die Jahre danach, bei Freunden der Familie. Sie hatten eine Tochter in meinem Alter und meine Mutter hat sie bei Weiterbildungsmaßnahmen für Spätaussiedler kennengelernt. Sie kamen auch aus Polen. Wir trafen sie oft und so auch dieses Silvester.

Mein Vater ist Alkoholiker und zu der Zeit versuchte meine Mama das noch vor Freunden  und Bekannten zu verstecken. Mir war das Ganze aber schon bewusst. Jedes Wochenende, an Feiertagen und so weiter wurde mir gezeigt, welche Wirkung Alkohol auf Menschen haben kann. Mein Vater kannte beziehungsweise kennt kein Ende. Er kann einfach nicht aufhören zu trinken.
Ich weiß nicht genau, wie es im Wohnzimmer bei den Erwachsenen zuging. Ich denke meine Mutter wurde immer mulmiger, je betrunkener mein Vater wurde, sagte aber nichts um die Tarnung einer intakten Familie zu wahren. Ich war beschäftigt mit Spielen und war sogut wie nie im Wohnzimmer.

 Irgendwann war es Zeit nach Hause zu gehen. Erst mit der U-35 von der Markstraße bis zum Hauptbahnhof und dann weiter mit dem Taxi nach Höntrop. Ich erinnere mich nicht an die Rückfahrt. Nur eine Minute, spielt sich sehr detailliert vor meinem inneren Auge ab. Wir sind Rolltreppe gefahren. Mein Vater hatte vorher wahrscheinlich meine Mutter angeschrien, beleidigt und degradiert. Alltag.

Mein Vater stand auf der Rolltreppe einige Meter vor uns. Meine Mutter und ich zusammen auf einer Stufe weiter unten. Ich hielt ihre Hand.  Es war die Rolltreppe auf der gegenüberliegenden Seite von McDonalds am Boulevard. Es ging hoch. Ich erinnere mich wie ich ihn beobachtete. Mein Vater war unter Alkoholeinfluss unberechenbar. Man wusste nie, wann er entschied, dass es an der Zeit war handgreiflich zu werden. Man musste ihn also ständig beobachten und durfte nie Unaufmerksamkeit sein. Also beobachtete ich ihn still und aufmerksam. Ich erinnere mich wie er, während der gesamten Fahrt zwar stand, aber sehr heftig taumelte. Irgendwann, es war im letzten Drittel der Rolltreppe, schwankte er sehr stark. Ich realisierte, dass er so stark kippte, dass er fallen musste.

Der Point-of-no-Return war überschritten. Dieser Moment. Diese wenigen Sekunden spielten sich in Zeitlupe ab. Ich realisierte, dass er fallen würde. Ich weiß noch, dass ich darüber nachdachte wie schmerzhaft ein Fallen auf die metallischen Streben der Rolltreppe sein müsste. Ich weiß noch wie ich realisierte, dass ich zu weit weg war um ihn festzuhalten oder am Fallen zu hindern. Ich weiß noch, dass ich mir vorstellte, wie er mit dem Gesicht auf diese seltsam geformten metallischen Treppen fallen würde. Und ich weiß noch, dass ich es gern verhindert hätte.
Ich weiß nicht mehr, ob ich hingesehen hatte oder die Augen verschlossen hatte. Tatsächlich kann ich mich auch nicht daran erinnern wie genau er gefallen ist und ob er nun auf dem Gesicht oder dem Hinterkopf aufgekommen ist. Das nächste an das ich mich erinnere war Blut. Viel Blut auf der ganzen Rolltreppe. Danach war er weg.
Ich weiß nicht mehr, wie es passiert ist. Aber ich weiß noch das meine Mutter einen Taxifahrer bat auf mich aufzupassen und loszog um meinen Vater zu suchen. Ich war danach sehr sortiert und klar. Ich erinnere mich an ein sachliches Gespräch darüber was passiert war und schweigen mit dem Taxifahrer und das er einen Funkspruch von der Zentrale erhielt für einen neuen Auftrag. Ich sagte ihm, dass es kein Problem wäre, mich alleine zu lassen. Ich würde klarkommen und würde einfach auf meine Mutter warten. Ich war zu diesem Zeitpunkt sehr rational und logisch. Ich wollte nicht wegrennen, nicht spielen sondern einfach meine Aufgabe erfüllen. Zu Warten bis meine Mutter wiederkam.

Ihr so wenig, wie möglich zur Last zu fallen. Es war niemand nötig, der auf mich aufpasste. Aber das verstand niemand. Aber es war in Ordnung. Es ging nicht um mich und eine Diskussion über meine Selbstständigkeit half niemandem. Der arme Taxifahrer tat ja auch nur was ihm aufgetragen wurde und meine Mama hatte andere Probleme. Ich wartete also einfach. Diese Sekunden, direkt nach dem Point-of-no-Return, sind wohl die längsten Sekunden, die ich bis heute erlebt habe. Nie wieder passierte irgendetwas in Zeitlupe.


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"Gesprächsstoff" ist eigentlich eine so genannte Talkbox. Mit Fragen, die zum Gespräch anregen, weil sie nicht so aufgebraucht sind wie andere. Wir nutzen ein paar der Fragen des Basis-Sets, um unsere Gespräche hier im Blog anzuregen. Denn als Blogteam sind wir eigentlich in einer Kennenlernphase, wo es natürlich darum geht, herauszufinden, wer die anderen so sind. Aber wir wollen natürlich auch gerne mit euch sprechen und diskutieren, die Anreize nutzen und von euch neue Impulse bekommen. Also geht die Eingangsfrage natürlich auch an euch und wir freuen uns auf eure Kommentare.

Kommentare

  1. Anonym7.8.17

    Danke, dass ihr diese z.T. sehr privaten Momente mit uns geteilt habt.

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    1. Sehr gerne. Gesprächsstoff ist in unserem Blog auch immer mehr eine Reihe, die uns hilft uns untereinander zu verstehen, aber auch zu zeigen, dass wir sehr Mensch sind, hinter dem was wir sonst so tun. Außerdem bin ich dankbar, dass unser Team gemeinsam redet und reflektiert.

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