Ich war ein Lügner

 oder:
 Wer ich früher einmal war II


Schon in der Grundschule war es so.
Jeden Montag gab es eine Runde vor dem Unterricht, wo unsere Klassenlehrerin uns fragte, was wir so am Wochenende erlebt hatten. Ich hatte nie etwas besonderes erlebt, aber ich hatte immer etwas zu erzählen. Aber ich hatte nicht nur immer etwas zu erzählen, nein, es war auch eigentlich immer erfunden.
Ich war ein äußerst schüchternes Kind. Wenn meine Eltern mich noch eben losschickten etwas im Supermarkt zu kaufen und ich es nicht sofort fand, kam ich mit leeren Händen zurück. Die Verkäuferinnen im Co-op anzusprechen war nicht nur keine Option für mich, es war mir vollkommen unmöglich. So hatte ich keine andere Wahl, als meine Eltern anzulügen. Wie oft ich behauptet habe etwas wäre ausverkauft. Kapern. Schon mal gesehen das Kapern ausverkauft sind? Ich auch nicht.
Auch am Gymnasium war es dann so.
Meine Grundschullehrerin hatte meinen Eltern das Gymnasium für mich vorgeschlagen, da ich "eine sehr große Fantasie" und "eine Vortragsweise, die in dem Alter nicht üblich ist" hatte. Ich war inzwischen ein so geschulter Lügner, dass ich meine Hausaufgaben aus dem Heft vorlas, auch wenn dort keine waren. Erwischte wurde ich trotzdem.
Für das Gymnasium impften mir meine Eltern ein, dass es meine Chance wäre sie zu überflügeln, was für mich eine große Bürde war. Ihnen zu Liebe hörte ich auf zu versuchen Lehrer hinters Licht zu führen und mühte mich um gute Noten. Doch schnell begriff ich, dass ich damit nicht zwangsläufig beliebt werden. Ein Bedürfnis, dass schon immer stark in mir verankert war. Beliebt sein. 
Es hatte schon früher funktioniert, sich selbst Freunde anzudichten, die dann abgefahrene Abenteuer erlebten um sich selbst als "cool" erscheinen zulassen. Also verfolgte ich auf dem Gymnasium die selbe Strategie mit durchwachsendem, aber immernoch ausreichendem Erfolg.

Umständliche lange Geschichte kurz erzählt: Ich habe immer weiter gelogen.
Nie wirklich "große" Lügen. Nie etwas im direkten Umfeld. Manchmal auch nur etwas verfälscht oder übertrieben. Ironischerweise habe ich mein Leben lang betont wie wichtig es ist ehrlich zu sein und seine Meinung dann auch mitzuteilen. Der Widerspruch darin ist mir eigentlich nie aufgegangen.
Betrogen habe ich eigentlich nie. Einmal habe ich meiner damaligen Freundin mit einer Ex-Freundin fremdgeknutscht und dafür bin ich mir heute noch wütend. Es wäre damals leicht gewesen, einfach meiner Freundin eine verfälschte Geschichte zu erzählen, aber am nächsten Morgen habe ich ihr alles und auch ehrlich erzählt. 

Die Fertigkeiten, die man als guter Lügner erwirbt sind optimal um Geschichten zu schreiben und um sie auf der Bühne vorzutragen. Man muss ein gutes Gedächtnis haben, man muss ein Gefühl für seine Zuhörer bekommen, man muss sich zu verkaufen wissen, man muss Wissen über bestimmte Aspekte haben, oder zumindest überzeugt vortäuschen können. Ein Lügner macht noch lange keinen Erzähler, das will ich hier nicht sagen. Aber Erzählungen kann man durchaus auch als Lügen sehen. Erfundene Charaktere in erfundenem oder verfälschten Umfeld. Wenn man will, dann kann man von Lügen sprechen.
Für Anwälte scheinen dies übrigens auch genau die richtigen Fertigkeiten zu sein.

Ich weiß nicht mehr genau wann es war und auch nicht warum ich es getan habe, aber irgendwann im vorletzten Jahr bin ich losgezogen und habe es offengelegt. Ich habe mich mit Freunden getroffen und habe ihnen gesagt, dass ich gelogen habe. Ich habe ihnen die Lügen entschlüsselt und offengelegt. Das einzige was ich anbieten konnte war die Tatsache, dass ich es verstehen würde, wenn man mir die Freundschaft kündigen würde.
Das man mich als Schwätzer wahrgenommen hatte, überraschte mich wenig. Die echten und die gelogenen Geschichten zu unterscheiden wurde ja auch für meine Freunde nicht leichter, denn auch wenn sie schon lange wussten, dass ich es "mit der Wahrheit nicht so genau nehme", so wollten sie doch nicht über mich urteilen. Das rechne ich ihnen hoch an.
Zu sagen, dass ich nicht mehr lüge, nicht mehr übertreibe, dass wäre, nun, übertrieben. Natürlich verwende ich auch Notlügen und manche Geschichte muss einfach übertrieben werden, aber die Maßstäbe haben sich verändert. Es war kein Umschwung von jetzt auf gleich, aber es ist deutlich besser geworden. Anstatt von erfundenen Freunden zu erzählen, erzähle ich von meinen echten Freunden und was sie tolles geleistet haben. Ich brauche die Lügen nicht mehr. Ich komme ohne viel besser aus.
Trotzdem erzähle ich von mir als Lügner und weshalb?
Das ist ganz einfach:
Diesen Teil meines Lebens zu verdrängen oder zu verschweigen, wäre genauso Lüge, wie all meine anderen Lügen davor.
Heute bin ich nicht mehr der selbe Jay wie früher und das,
das ist die Wahrheit.


Warum schreibe ich diesen Beitrag nun in meinen Blog?
Ich weiß nicht ob es "klug" oder "richtig" ist, diesen Abschnitt meines Lebens öffentlich zu machen. Ich weiß nur, dass es mir wichtig ist. Auch wenn ich mich zur Zeit bewerbe und auch diesen Blog in meinem Lebenslauf erwähne; Ich musste das einfach auch hier loswerden.
Zudem ist dieser Blogeintrag ein Mahnmal für mich selbst. Je mehr davon wissen, desto mehr können sich schützen und auch mich warnen, sollte ich mich zurückentwickeln.

Kommentare

  1. Beeindruckend und entwaffned, diese Offenheit. Meine Hochachtung!

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  2. Wie schön, dass Du Deine Wahrheit ein Stückchen wahrer gemacht hast.

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  3. Auch von mir: Respekt für deinen offenen Umgang!

    Man muss erstmal an einen Punkt kommen, an dem man merkt, dass etwas nicht stimmt, dass man so nicht weiterleben kann, sich selbst hinterfragt UND dann auch was ändert. Daumen hoch!

    Ich muss grade irgendwie an Scott Pilgrim denken, wenn er eine Erkenntnis für sich gefunden hat und somit ein 'Level up' bzw. Achievement bekommt oder eine neue Fertigkeit dadurch erhält.

    Also *ping* Achievment unlocked ;)

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  4. Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein! ;)

    Lügen gehört doch mittlerweile zum Volkssport Nummer 1. Das fängt bei Kleinigkeiten an und hört beim Versicherungsbetrug noch lange nicht auf.

    Hut ab für Deine Ehrlichkeit und den Versuch, ohne aus zukommen.

    Adacta ist diesmal eine überaus passende Sicherheitsabfrage wie ich finde. ^^

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  5. Anonym15.5.11

    meine hochachtung vor deiner ehrlichkeit. es berührt mich zutiefst, dass du immernoch wütend wegen damals bist, brauchst du aber nicht sein. wir alle machen fehler und lernen daraus... so auch du! ich habe diesen text leider erst jetzt lesen können, bin aber froh es getan zu haben. du bist ein toller kerl und ich hoffe das sich das nie ändern wird =) lg kathrin

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  6. An Kathrin:
    Danke sehr. Ich bemühe mich auf jeden Fall, das ist versprochen.

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