Alle Jahre wieder
„Wieso ist eigentlich jeder scheiß Kulli in diesem Haus
leer, wenn ich einen benutzen will?!“ schrie Eduard aus dem Arbeitszimmer so
laut, dass man ihn, der er eigentlich im zweiten Stock saß, trotz der
dröhnenden Weihnachtsmusik von der immergleichen Schaltplatte im Erdgeschoss
noch so gut verstand, als wäre er im selben Raum.
Das erwartete Poltern ließ nicht lange auf sich warten:
Marianne schoss aus der Küche vorbei am lamettierten Weihnachtsbaum durchs
Wohnzimmer in den Flur, stellte sich an das festlich dekorierte Treppengeländer
und schrie hinauf: „Du sollst verdammt nochmal keinen Kugelschreiber verwenden,
wenn du die Weihnachtskarten schreibst. Nimm den... hier... den mit der Tinte –
einen Füller!“ „Das heißt Füllfederhalter, Herr Gott nochmal!“ kam als
sofortige Antwort zurück. Sie gaben sich beide keine Blöße.
Eins, zwei, drei... Rums! Wie erwartet wurde die Tür des
Arbeitszimmers zugeknallt. Eins, zwei, drei... Rums! Wie erwartet folgte die
Küchentür innerhalb von nur wenigen Sekunden Abstand. Aus beiden Zimmern würden
nun Selbstgespräche zu hören sein, Flüche der schlimmsten Sorte, würde man sich
nur nah genug nähern.
Ich blieb still liegen und genoss meine Ruhe. Viel Zeit
hatte ich sowieso nicht mehr. Die letzten Jahre hatten mich viel Kraft
gekostet, geradezu aufgezehrt. Dabei war ich immer nur eine Notlösung, wurde
immer nur gebraucht und wahrgenommen, wenn alle anderen nicht verfügbar waren.
Ich zählte von 30 runter. So lange dauerte es immer, bis die
Tür wieder auffliegen und Eduard die Treppe hinunterstürmen würde. 3, 2, 1...
Bäm! Die Tür flog gegen die Wand, die lauten, schnellen Schritte gepaart mit
atemlosen Hecheln waren zu hören. Als er unten ankam, stolperte er wie immer
über die letzte Stufe, schaffte es jedoch immer wieder, sich kurz vor einem
Sturz zu fangen und an dem kindgroßen Rentierholzschnitt emporzuziehen, den er
so unfassbar hässlich fand und den Marianne nach Weihnachten immer nur knapp
vor dem Kaminfeuer retten konnte. Sein Ziel war die Küche.
Eduard öffnete die Tür, Marianne erschrak und hätte sich
fast mit dem kochend heißen Wasser für die Klöße übergossen. „Ich hätte mich
fast mit dem kochend heißen Wasser für die Klöße übergossen! Ich hätte mich
schwer verbrennen können.“ Auch Eduards Replik war standardisiert: „Hast du
aber nicht. Wenn ich mit dem Füllfederhalter schreibe, verschmiere ich den
ganzen dämlichen Text.“ „Dann schreib doch mit der anderen Hand“, antwortete
Marianne gelassen. Sie verstand es jedes Mal als Scherz – er nicht.
„Unglaublich lustig – ich bin...“ „...Linkshänder, ja.“ Zum
Glück verstand sie es, Eduard immer sofort zu stoppen, bevor er seine
hanebüchene Geschichte, warum er Linkshänder war und das auch die Lehrer es
nicht geschafft hatten, es ihm auszutreiben, in all ihrer epischen Breite von
sich gab. Wir hatten sie alle oft genug gehört. Ich hatte sie einmal sogar für
ihn aufschreiben müssen.
Dies war der Punkt, an dem ich wusste, dass meine letzten
Minuten gekommen waren. „Dann nimm halt einen Bleistift. Da kannst du nichts
verwischen und die funktionieren immer“, sagte Marianne, während sie die Klöße
in das Wasser einließ. Eduard gab nur sein übliches zustimmendes Schnaufen von
sich, weil ihm in den Momenten, in denen seine Frau Recht hatte, nie etwas Besseres
einfiel, ihr aber auch nicht direkt zustimmen wollte.
Er drehte sich um und kam zur Schublade. Natürlich öffnete
er zunächst die rechte der beiden Schubladen. „Wo liegt er denn?“ fragte er. „Wo
er immer schon lag - in der linken Schublade“, antwortete Marianne. Wieder das
Schnaufen.
Als er die linke Schublade öffnete, sah ich das helle Licht,
dann kam er mit seinem schmalen, bebrillten, von der Anstrengung immer noch
leicht geröteten Gesicht zum Vorschein und erhob mich mit seinen dünnen Fingern.
Finger, die nie harte körperliche Arbeit gekannt hatten, sondern zu einem Mann
gehörten, der sein Lohn und Brot mit der Macht des Wortes verdiente.
Zunächst lächelte er, wie immer, wenn er mich entdeckte.
Dann sah er besorgt drein. Er war bereits auf dem Weg zurück durchs Wohnzimmer
vorbei am lamettierten Weihnachtsbaum hin zur Küche. „Das ist ja nur noch ein
kurzer Stumpf“ sagte Eduard und hielt mich dabei zwischen Zeigefinger und
Daumen demonstrativ vor Mariannes Nase.
„Für die paar Zeilen, die du an die Kinder und deinen Bruder
schreibst, reicht er noch. Danach kannst du ihn ja wegschmeißen“, sagte
Marianne. Schnaufen seitens Eduard. Sie wendete sich bereits dem Braten zu.
Mein Schicksal war in diesem Moment besiegelt, doch ich
freute mich darauf. Denn ich würde mich mit poetischen Worten und eleganter
Linienführung verabschieden. So viel musste man Eduard lassen.
Gemeinsam stapften wir wieder hinauf, auf dem Weg zu den letzten
Weihnachtskarten, die ich würde schreiben dürfen. Ich hatte meinen Zweck
erfüllt. Und es war gut so.
Amüsant, überraschend, melancholisch
AntwortenLöschenAuch wenn "gut so" war, macht mich das Schicksal des Bleistifts traurig...