Wenn das Kind das Haus verlässt

Foto: Stephan/ Bokehemia
Ich erinnere mich an die erste Fahrt ohne Stützräder. Mit Duplo auf dem Boden eines unrenovierten Zimmers spielen. Im Esszimmer auf einer Matratze schlafen müssen. Vom Papagei angegriffen und deshalb mit dem Stuhl hinten übergeworfen werden.

Mit dem Cousin Ameisennester mit Essig angreifen. In Omas Klo eingesperrt zu sein. Schlittenfahren im Weihnachtsurlaub und in einem Hotel vom Weihnachtsmann so viele Geschenke bekommen, dass es peinlich ist.

Die erfundenen Abenteuer für die Montagmorgenrunde in der Grundschule. Die Verweigerung vor dem ersten Blockflötenunterricht. Der schreckliche Französischunterricht in der Grundschule, der jeden Zugang zu dieser Sprache verbaut hat. Das Freuen auf den Sachkundeunterricht. Der Beste im Lungentest der Klasse sein.

Ein Mädchen auf dem Schulhof schlagen und danach keine Reue spüren. Schuldsein, nur weil man ein Junge ist und das nicht zum letzten Mal. Kathrin toll finden und nach drei Jahren zum ersten Mal fragen zum Spielen kommen zu dürfen. Und zum letzten Mal. Einen guten Freund von einem Auto wegziehen. Ärger bekommen, weil ein Doppelgänger im Stadtteil rumläuft, wenn man in der Schule sein soll.

Schwimmen in den Wasserbecken von Pamukkale in der Türkei. Die Fantasieabenteuer mit Mourad, Gökhan und Juri. Der niedliche kleine Junge sein, der für die Teenagerjungs im Park die Mädchen anspricht. Der Überraschungsbesuch der Cousins und Cousinen zu Weihnachten. Der andere Überraschungsbesuch, wo man vor lauter Überraschung vor der Familie davon läuft.

Der Einzige mit einem Klapprad sein und die anderen Kinder laufen vor einem weg. Morgens vor der Schule bei Mutter in der Metzgerei sitzen. Die Abkürzung über den Zaun nehmen. Einmal in Schlafanzughose zur Schule. Der verlorene Haustürschlüssel, der nur bei einem Freund in der Wohnung lag. Einmal und nie wieder Eisessen bei Möhrchen.

In Kathrin verliebt sein. Mit Dreizehn das erste Bier trinken. In der selben Woche sich ritzen, weil man glaubte, sich so umbringen zu können. Denken keine Freunde zu haben und welche erfinden. Bis zum sechszehnten Lebensjahr keinen Kuss bekommen haben. Mit siebzehn die erste Freundin haben. Ein schreckliches erstes Mal haben. Unzählige Male sowas wie ein bester Freund sein. Einen Kumpel haben, der die Eltern überredet zum ersten Mal in die Disko zu dürfen. Irgendwann rausgehen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. 

Ich stelle diese Liste in Gedanken auf und versuche so viele konkrete Erinnerungen von unserer gemeinsamen Zeit abzurufen. Was uns gemeinsam beschäftigt hat, was wir zusammen erlebt haben. Aber dann merken, dass wir älter werden und alle Kinder irgendwann groß werden. Ich weiß, dass ich diesen Jungen da immer lieben werde, aber ich kann jetzt nicht so tun, als hätten wir uns nicht auseinander gelebt.

Irgendwann ist man halt groß und dann trennen sich die Wege. Ein Moment, der keinen Termin hat. Nicht der achtzehnte Geburtstag, nicht das Abitur oder der erste Job. Es geschieht einfach irgendwann und dann nimmt jeder seine Abzweigung. Und weil keiner weiß, wann dieser Tag kommt, kann dir auch keiner vorher sagen, dass dein erstes Kind, welches das Haus verlässt, du selbst bist.

Kommentare

  1. sehr schön geschrieben. Weckt einige Erinnerungen.
    Ja...irgendwann wird man halt groß. Wie konnte das nur passieren?

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    1. Das Erwachsenwerden ist ja nicht das Problem, es zu akzeptieren um so mehr.

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