Der sonderbare Junge

Tick Tack, Tick Tack!

Da war er wieder, der sonderbare Junge. Jeder Schritt präzise und weich. Jeder Blick geordnet und sortiert. Er trug jeden Morgen diesen fröhlichen Hut, mit dieser fröhlichen Weste, mit diesem fröhlichen Lächeln und den leicht müden Augen.
Er marschierte lächelnd durch den Ort und grüßte jeden höflich. Sachte hob er sogar immer etwas seinen Hut an, obwohl das vollkommen aus der Mode gekommen war. Selbst die miesesten Peter und die griesesten Grame grüßten ihn lächelnd zurück, als er auf dem üblichen Weg zur Bäckerei war. Ein jeder nannte ihn "Junge", obwohl er schon ein erwachsender Mann war. Kein Sohn des Ortes, nicht mal ein Kind der Region. Ein zu gereister Fremder, wie er weniger fremd nicht mehr sein konnte.
Freudig stand er vor der Bäckerei und schaute durchs Fenster hinein. Obwohl er jeden Morgen hinein ging, so grüßte er auch jedes mal schon von draußen. Sorgfältig streifte er die Schuhsohlen ab und stieg in die warme Stube.
Er kaufte drei Brötchen. "Können auch die Dunklen sein." zwinkerte er der Bäckerin dann jeden Morgen zu. Nur selten lächelte sie noch. Auch ihre Augen waren etwas müde.
Wenn er weg war und Kunden da waren, dann sagte sie: "Es ist so traurig. Trifft mich jedes mal am Herzen wenn er hier ist." Und der Kunde, so sollte er nicht aus diesem kleinen Ort sein, hätte gefragt: "Wieso? Was ist denn mit dem Jungen? Er schien doch fröhlich." Und dann hätte die Bäckerin seine Geschichte angefangen und etwas geredet, aber wäre dann zu einem Lachen übergegangen und hätte gesagt: "Nun ja, aber eigentlich sollte man ja nicht im Rücken anderer reden."
Tick Tack, Tick Tack!

Pfeifend war er dann jeden Morgen auf dem Weg nach Hause. Nur beim Zeitungsjungen machte er doch halt. Er unterhielt sich mit ihm und kaufte die Tagesausgabe. Jedes mal versuchte der freche Zeitungsbengel das Gespräch künstlich zu verlängern, aber pünktlich und präzise sagte der Junge jedesmal: "Es tut mir Leid, aber ich muss jetzt wirklich weiter. Die Zeit." Er zeigte dabei immer auf sein Handgelenk, an dem sich aber keine Uhr befand. Der Zeitungsjunge schüttelte dann jedes mal den Kopf und schaute etwas traurig.
Der Junge trug nie eine. Er brauchte sie nicht. Er wusste immer die genaue Zeit, wann immer man ihn auch danach fragte. Wenn jemand danach gefragt hätte, hätten die Leute in der Ortschaft gesagt: "Er ist die Zeit. Das ist so traurig mit ihm." Dann wären sie aber jedesmal weg gegangen.
Tick Tack, Tick Tack!

Man schwieg hier gerne über ihn. Über ihn und sein Leid. Seit damals hatte sich der Ort verändert, weil er sich verändert hatte. Während früher noch er mit seiner erfrischenden lockeren Art einen neuen Zauber in den Ort gebracht hatte, so trägt er heute nur noch den Trauergeruch von alten Kupferschrauben mit sich. Dieses leicht oxidierte mit einer Note von Maschinenfett. Teile seiner Art hatte er sich behalten, aber wie die Zeiger einer Uhr bewegte sie sich immer auf der selben Bahn. Und genau wie feine kleine Zahnräder, so musste bei ihm alles genau in einander greifen, sonst würde er nicht funktionieren.
Im leisen Rhythmus seiner Schritte zog immer ein Ticken mit ihm.

Tick Tack, Tick Tack!

An einem Tag im Jahr, da war es anders. An einem Tag im Jahr, da kam der Uhrmacher. An so einem Tag, da war es immer finster im Ort. Selbst am Tage war es wie nachts, aber nicht der Uhrmacher zog diese Dunkelheit mit sich. Wenn er kam, dann schlossen die Geschäfte und die Fensterläden zogen sich alle zu. Die Straßen leerten sich und es ging nur auf ihnen, wer es nun wirklich nicht vermeiden konnte. Die meisten grüßten ihn nicht, sie straften ihn mit fahlen Blicken. Nur wenn Fremde im Ort waren, dann fragten sie:
"Wer ist dieser Mann?"
Für gewöhnlich läuft er dann weiter blind seinen Weg. Er starrt zu Boden und spricht die folgenden Worte:
"Ja, Wer ist dieser Mann?
Der heute in den Ort hier kam
Er ist finster, traurig und klein
Das kann nur der Uhrmacher sein

Einstmals ein Mann vom Fach
Der feine Uhren macht
Für die Herren und die Damen
Als noch alle zu mir kamen"

Die Fremden wären irritiert und wenn sie Kinder bei sich haben, dann hätten sie diese zu sich gezogen.

"Wer ist denn nun dieser Mann?
Ja, der Uhren bauen kann
Der nur fleißig sein wollte
Und zum Mörder werden sollte?

Der Tags nicht mehr leben darf
denn Nachts hat er keinen Schlaf
Den in diesem Ort alle meiden
SIE VERSCHULDEN DOCH SEIN LEIDEN!

Leid und unsagbare Schmerzen
Wegen einem Uhrmacherherzen
Das er diesem armen Jungen gab
an diesem jungen Todestag"

Und dann wären die Fremden weggegangen. Weg von dem seltsamen Mann, mit dem eisigen Blick, der sich langsam durch die Straßen schob. Der wie ein mahnendes Denkmal; Der wie ein denkendes Mahnmal durch diesen Ort ging. Der mit seinem Werkzeugkoffer und dem Mantel wie Gevatter Tod aussah. Und man hätte spüren können, wie auch ein fader Geruch durch die Gassen ging. Und man hätte spüren können, wie ein leichter schwarzer Nebel die Knie umspielte und zart ins Jenseits rief. Der Uhrmacher kam als Gänsehaut und ging als Übelkeit.
Wenn der Uhrmacher in dem Haus des Jungen verschwand, dann dauerte es nie lange bis gleißende Schmerzensschreie im Ort lagen.
Wären Fremde in einem Lokal gewesen, dann hätten sie gefragt: "Was war denn das?" Und die Einheimischen im Ort würden sich ansehen und sagen:
"Unser Junge war einmal verliebt. Er kam mit seiner Liebe hier her um ein einfaches ruhiges Leben zu führen. Er war glücklich, er war frei und teilte das mit uns. Er war die Farbe im Ort, sie war die greifende Linie an der Farbe. Sie blieb immer blass. Sein Lächeln färbte auf unseren Ort ab. Lange Zeit ging alles gut. Lange Zeit waren alle glücklich.
Seine blasse Freundin wurde zunehmend blasser und bald sollten wir erfahren, dass sie eine Erkrankung am Herzen hatte. Sie musste oft in die Stadt ins Krankenhaus. Erst Stunden, dann Tage, dann Wochen. Die Ärzte fanden keinen Weg, denn ihr Herz starb einfach. Nur ein neues Herz, das wäre die Lösung."
Wer auch immer die Geschichte erzählt hätte, er hätte durch geatmet. Er hätte gestockt und wäre sich mit der Hand durch sein Gesicht gefahren. Der Fremde würde neugierig, aber mit einer traurigen Ahnung mehr hören wollen.
"Unser Uhrmacher war einmal ein gebildeter Mann mit vielen Talenten. Er war Uhrmacher, Arzt und Freund in einem. Es bot sich nur an, dass der Junge ihn um Hilfe bat. Aber der Junge war inzwischen im Liebeswahn. Ohne seine Liebe, so wusste er, so würde er seine Farbe verlieren. Also zwang er den Uhrmacher, als dieser von einem künstlichen Uhrmacherherzen erzählte, es zu bauen und ihm einzusetzen. Es ihm zu geben, so dass er sein Herz seiner blassen Liebe geben konnte. Und der Uhrmacher beugte sich."
Und in den Straßen stellt sich unter Schmerzensschreien ein Singsang ein.

"Wer ist dieser Mann?
Der Tags nicht mehr leben darf
denn Nachts hat er keinen Schlaf
Den in diesem Ort alle meiden
Sie verschulden doch sein Leiden!

SIE wussten ob der Liebe
der Blassen für den Diebe
der aus der Stadt
dem Jungen sie entführt hat

Sein Herz fort zu geben
für ihr zartes Leben
Damit sie es einem Anderen gibt
Den sie von nun an liebt

Alle wussten, nur er nicht
Nur er wahrte sein Gesicht
Als er seine Farbe verlor
und sich der Uhr verschwor"

Tick Tack, Tick Tack!
Tick Tack, Tick Tack!


Anmerkung:
Vielleicht geht die Geschichte des sonderbaren Jungen noch weiter.

Kommentare

  1. Wow... Das is echt traurig. Erinnert mich ein bisschen an "Edward mit den Scherenhänden"... Aber es is echt furchtbar traurig, irgendwie auch schön und... Weiß nich.
    Es is auf jeden Fall grandios geschrieben. Viele Konjunktive, aber die passen absolut rein. Anders gehts gar nich.
    Das mit den "miesesten Petern" und "griesesten Grämen" is auch klasse. Das mahnende Denkmal bzw denkende Mahnmal... Großartig. Wirklich toll.

    Ich weiß nich, ob ich noch mehr von dem Jungen lesen will. Es ist so schön geschrieben, dass ich einerseits gerne noch etwas lesen würde, andererseits steht diese Geschichte so wundserschön für sich selbst, dass ich nich weiß ob es so klug wäre, noch etwas dranzuhängen. Man wird ja quasi als Leser in die Rolle des Fremden gesteckt, der sich nach dem sonderbaren Jungen erkundigt, bzw etwas über ihn erfährt. Wenn du noch mehr dazu schreibst, könnte diese Rolle des Lesers als Fremder verloren gehen...

    Aber... Hm. Musst du wissen. Ich find's so oder so toll, ob es jetzt so stehen bleibt oder du noch weiter daran schreibst.

    Es is einfach großartig.

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  2. Anonym25.6.09

    "Wow" war auch mein erster Gedanke...toll geschrieben, man fühlt sich richtig mitgerissen als Leser. Auch wenn, oder gerade weil es so traurig ist.

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  3. Danke sehr. Der Text hat mich auch lange beschäftigt.

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