Broken-Windows-Syndrom

Ich sitze in einem kleinen Kellerbüro, das mich ein wenig an die diversen Zockerlöcher erinnert in denen ich groß geworden aufgewachsen bin. Wir warten auf die Ankunft der Kinder, die wir in den nächsten Tagen mit einem Seminar zum Thema "Soziales Lernen" erfreuen dürfen. Ich teame zusammen mit Tobias, der an der Tür steht und mit dem Finger in einem Schaumstoffball rumbohrt. Entgegen dem, was man bei der Einleitung erwarten könnte, ein extrem kompetenter Mensch.
Bert, unser Chef in dieser Bildungseinrichtung, den wir bisher mit äußerst dümmlichen und politisch vollkommen unkorrekten Witzen von der Arbeit abhalten, merkt auf einmal, was Tobias da macht. "Sag mal, kannste den Ball vielleicht heile lassen?", fragt Bert in einem äußerst entspannten Ton, aber durchaus mit dem Bewußtsein, dass Jugend-Häuser und -Bildungsstätten nun wirklich nicht mit Geld überschüttet werden, ergo also jede Ressource wertvoll ist. Tobias, der Bert auch schon unendlich lange kennt, legt den Ball weg und kontert nur: "Verzeihung. Broken Windows Theorie kennst du aber?" - "Ja, schon." - "Wenn ich ihn nicht kaputt mache, machen es die Kinder."  - "Ja man, trotzdem."
Als ich an dem Tag vom Seminar nach Hause gekommen bin, habe ich erstmal nach geschaut, was es damit auf sich hat. Broken-Windows-Theorie, die verkürzte Version: Wenn erstmal die Fenster an einem Gebäude kaputt sind, ist die Schwelle zur weiteren Verwahrlosung niedriger. Die Soziologen gehen jetzt direkt davon aus, dass wegen einem zerbrochenem Fenster Schußwaffen, Drogen und Prostitution in einen Stadtteil kommen, vermutlich durch das kaputte Fenster, aber das geht mir zu weit. Aber, so ganz verneinen kann ich die studierten Herren dann leider doch nicht.
Jetzt haben sich die Medien hier in meiner Heimatstadt Anfang Juli, in Vorbereitung auf das Sommerloch auf die (statistische) Nachricht eingeschossen gehabt, dass Essen die grünste Stadt NRWs ist, mit 9,2% Grünflächen-Anteil. (siehe: Der Westen) Ich als gefühlter Ureinwohner meines Stadtteils, der es noch nicht mal geschafft hat jemals weiter als 200 Meter von seinem ersten Kinderzimmer weg zu ziehen, merke aber, dass unsere weichen Standortfaktoren hier durchaus mit harten Faktoren zu kämpfen haben. Genauer Hardware-faktoren:
Flieg, du bist frei!
Ich habe nur einen dokumentiert, aber in den letzten Wochen alleine vier, wildlebende, Fernseher in Essen-Frohnhausen gesehen. Warum, außer beim beherzten Wurf aus dem Fenster, Fernseher an der Straße und auf Grünflächen landen, will sich mir nicht erschließen. Dass der technische Fortschritt so weit ist, dass auch Fernseher sich vermehren oder an Bäumen wachsen, halte ich für unwahrscheinlich.
Das unsere Stadt langsam aber sicher an allerfeinstem Broken-Windows-Syndrom erkrankt aber für immer realistischer, denn Fernseher sind nicht die einzigen neuen Bewohner unserer Parkflächen. Mit Freuden entdecke ich immer wieder abgetretende Plastikmülleimer in Nähe diverser Sportstätten.
Und auch diese Essener Ecke spricht für sich.
Langer Aufreger, kurze Zusammenfassung: Mein Stadtteil vermüllt zu nehmend.

Habe ich Reinigungstage und Sauberkeitskampagnen der Städteregierungen, unter anderem Müllsammeln als Alternative zum sonntäglichen Kirchen-/Spazier-Gang, immer belächelt, vor allem wegen ihrer dümmlichen Maskottchen (z.B.: Picco Bello in Essen, Myllianer in Duisburg) und pseudojugendlichen Aufmachungen, würde/werde ich jetzt beim nächsten Mal selbst teilnehmen. Aber Fernseher sind nunmal nichts, was man mal eben mit einem Müllpickser oder einer Abfallzange aufhebt und -schwupps- in den Müllsack packt.

Ich freue mich dann ja immer besonders, wenn an Jugendlichen und anderem zweifelhaften Personal bemängelt wird, dass da die Früherziehung wohl versagt hat. Aber mal ganz im Ernst, wenn ich ein Kind hätte und es würde sein Bonbonpapier auf einen rumliegenden Fernseher werfen, dann werde Schwierigkeiten haben zu sagen: "Nicht, du verschmutzt die Umwelt."
Plus: Auch wenn Kids und Teens ihre Unterhaltungselektronik gerne mit sich rumschleppen, begrenzen die sich doch meiner Wahrnehmung nach doch immer auf Handgeräte wie MP3-Player, PSP, DS oder auch App-Sammelspeicher, ehemals bekannt als Mobiltelefon. Ich könnte mich zu mindest nicht daran erinnern, dass ich mal eine Clique ermahnen musste, weil die gerade ihren Kühlschrank ins Gebüsch geschmissen haben.
Ganz im Gegenteil. Zu letzt durfte ich sehen, wie ein Junge den anderen angepflaumt hat, weil der sein Kaugummi auf den Bürgersteig gespuckt hat. "Hoffentlich trittst du auf dem Rückweg da selber rein, du Affe." Weise Worte, leider aber wieder kein Fernseher.

Vielleicht, ganz vielleicht, ist das aber auch nur der Mensch, der glaubt die Umwelt bräuchte einen mindest Abfallanteil, so rein statistisch, denn seit dem Dosenpfand fehlen ja massive Mengen lackiertes Metall in deutschen Parks und an Rinnsteinen. Denn das hat funktioniert. Sinn des Dosenpfandes war es die Straßen zu entmüllen und das hat geklappt. Und das, obwohl der Vorschlag aus der Politik kam. Und dann auch noch von den Grünen. Crazy.
Aber was ist jetzt die Konsequenz? Während ich einen Fernseherpfand sehr unterhaltsam fände, Herr Braungart vermutlich seine Idee "cradle to cradle" endlich unterstützt sehen würden, weiß ich doch, dass das äußerst realitätsfremd ist. Und eine "Zero Tolerance"-Politik wie in Teilen der U.S.A., wo jeder Kleinstverstoß massiv geahndet wird, fände ich vermutlich auch nicht so gut. Vorallem, da ja auch immer die Frage bleibt, wer das denn alles kontrollieren soll, was es hier so zu kontrollieren gäbe.

Aber daher habe ich das ganze auch als Syndrom bezeichnet. Ein Syndrom ist ein Krankheitsbild, verschiedener zusammenlaufender Symptome. Vielleicht wird es mal Zeit, entweder das Zusammenlaufen oder die Symptome zu behandeln. Vielleicht muss Lokalpatriotismus nicht mehr sein, für seinen Verein allen anderen die Nase zu verbeulen, sondern den Wettbewerb um die schönste und sauberste Straße auf zu nehmen. Vielleicht mal Verantwortung für seinen Stadtteil übernehmen. Von mir aus auch per Häkelgraffiti oder Guerilla Gardening. Ein paar Projekte gibt es hier auch schon, aber die kommen alleine gegen die fehlende Früherziehung auch nicht an.
Übrigens: Fernseher, die noch funktionieren, kann man auch gut an Jugendhäuser und andere Einrichtungen abtreten. Die haben- Vorsicht! Schließender Bogen im Text! - nämlich meist zu wenig Geld, da alles für Schaumstoffbälle draufgeht.

Kommentare

  1. Ich finde es auch bedenklich, wo und wie viele Leute ihren Müll entsorgen.
    Und dabei kann man einen Großteil der Sachen kostenlos der Verwertung zuführen.
    Manchmal versteh ich echt die Welt nicht mehr. :(

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    1. Eben. Das wundert mich ja auch. Wenn Mensch richtig Glück hat, kann man diversen Altschrott sogar noch gewinnbringend absteuern.

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