Jahresabschlussdepressionen
Dezember. So viele Dinge hören hier auf. Das Jahr zum Beispiel. Die Hinrunde der Bundesliga. Die schönen Tage draußen hören auf. Wir bleiben alle drinnen, kuscheln uns ein. Die guten Lieder im Radio hören auch auf. Die gute Laune des Festivalsommers auch. Das Geschäftsjahr auf der Arbeit hört. So vieles hört hier auf. Das Denken, das hört auch auf.
Anders kann ich mir das nicht erklären.
Heute zum Beispiel auf Facebook folgender Kommentar:
"Es gibt eine schreckliche
Geiselnahme in Sydney und auf Twitter sind die häufigsten Hashtags
Halligalli und Umberto. Was stimmt mit euch nicht?"
Ja, was stimmt nicht mit euch? Hallo?
Ihr könnt doch nicht den Bundesnachrichtendienst Twitter mit den
Dingen voll schreiben, die euch interessieren! Ihr könnt doch nicht
eure Meinung erst in Ruhe bilden und abwarten, was da in Sydney
passiert ist! Ihr müsst doch bitte alle zwei Sekunden twittern, wie
schrecklich das alles da ist.
Sonst merkt das doch keiner! Das muss
den Menschen doch mal jemand sagen, wie schlimm das da in Sydney ist.
Und ganz schnell eine Meinung haben auf Twitter. Dem Fenster zur
Welt. Schreibt doch bitte jetzt alle mal auf Twitter:
"Das mit Sydney ist schon schade, so kurz vor Weihnachten. Der Killer da ist voll der Hashtag Stimmungskiller." Das Denken, das hört auf, so zum Ende des Jahres.
"Das mit Sydney ist schon schade, so kurz vor Weihnachten. Der Killer da ist voll der Hashtag Stimmungskiller." Das Denken, das hört auf, so zum Ende des Jahres.
So was kommt dann aus dieser
Jahresuntergangsdepression. Die konstruiert sich aus diesen vielen
lebensbejahenden Situationen am Jahresende. Zum Beispiel: Zur Arbeit
losfahren wenn es dunkel ist. Zu hause wieder ankommen, wenn es
dunkel ist. Es braucht keine sechsmonatige Polarnacht um so richtig
schön depressiv zu werden. Ein Büro mit Fenster nach Norden und
schon ist man nach einigen Tagen sicher, dass es die Sonne nur noch
in der Wetterkarte beim Fernsehen gibt.
Auch ein Beispiel: Dick werden. Das
passiert. Gerade am Jahresende. Klar, ist unser Instinkt. Es wird
kalt, also müssen wir uns eine Vorrats-Notfall-Schicht zu legen.
Ganz normal.
Wenn wir alleine sind, legen wir uns
eine dickere Schicht zu. Ist ja keiner da, der mit uns kuscheln will.
Ironie an der Sache: Natürlich ist keiner da. Wir sind ja auch ganz
schön dick geworden. Wir sind aber auch ganz schön einsam. Wir
werden so bitterlich frieren alleine im Winter. Zeit was zu Essen.
Und zwar einen dieser
Schokoladennikoläuse. Und Marzipankartoffeln. Und Dominosteine. Und
Zimtsterne. Und Christstollen. Und dann regen wir uns wieder darüber
auf, dass die dieses Jahr schon seit September im Regal stehen. Ach
im September. Im Juli. Es ist ein Wettlauf auf Facebook und Twitter,
wer denn dieses Jahr zu erst Weihnachtssüsswaren gesehen hat. Und da
hört das Denken dann auch wieder auf. Denn wir ärgern uns darüber,
aber kaufen sie dann scheinbar trotzdem. Also irgendwer muss die ja
im September kaufen. Denn wir wissen ja eigentlich, dass das mit dem
Kapitalismus ganz einfach ist: Angebot und Nachfrage.
Würden die Dinger nicht im September
gekauft, würde die auch kein Supermarkt oder Discounter anbieten.
Aber da können wir uns zum Glück dann
ja austricksen. "Wenn ich die ganzen guten Sachen jetzt schon
esse und nicht im Winter, dann werde ich auch nicht fett." Habe
ich original so gehört. Klar, der Instinkt macht, dass wir erst im
Winter dick werden, wenn wir die Schutzschicht auch brauchen. Deshalb
nehmen wir auch im Sommer bei Grillfleisch und Grillbier automatisch
ab. Weil wir das die gute Figur dringender brauchen.
Das Denken hört auf am Ende des
Jahres.
Ich weiß nicht woran es liegt.
Vielleicht, wegen unserer Einstellung zu Enden.
Wir stellen uns vor, dass mit
dem Ende des Jahres, auch ein Abschnitt unseres Lebens endet. Ein
Spiel, das immer gegen Weihnachten und Silvester stattfindet und dann
auch nochmal zu unserem Geburtstag. Und zum Jahrestag unserer
Beziehung. Und zum Jahrestag unseres ersten Dates. Ja, irgendwie
haben wir es mit den Enden von Zeitabschnitten.
Das Problem dabei ist aber, Dinge könne
gar nicht gut enden. Also schon, aber wenn eine sehr sehr tolle
Sache, also zum Beispiel ein Jahr, das "unser Jahr" war
oder eine sehr gute Fernsehserie oder eine tolle Saison ein gutes
Ende nehmen, dann sind wir so unglaublich traurig, dass es jetzt
vorbei ist.
Und wenn dann aber eine Sache ein
schlechtes Ende hat, wie How I met your mother. Wie – für die
Borussia Dortmund – die Hinrunde, dann ist automatisch auch alles Scheiße,
was davor passiert ist. Natürlich war Dortmund mal Meister, aber was
nützt den Fans das jetzt?
Es kann also gar nicht gut zu Ende
gehen.
Und mit dieser Erkenntnis, dass es
nicht gut ausgehen kann, beschließen wir unsere Familie zu treffen.
Das Denken hört am Ende des Jahres auf. Familie treffen ist ja nicht
grundsätzlich was schlechtes. Also, kommt auf die Familie an. Eine
etwaige Darstellung meiner Weihnachstabende mit meiner Familie würde
ich mit dem Blair Witch Project vergleichen. Es hängen seltsame
Dekorationen in Bäumen, es ist dunkel und kalt, nach und nach
verschwinden Leute und bis zum Ende ist sich keiner sicher, ob er es
überleben wird, aber alle sind freiwillig und nur aus Neugierde
hier.
Wie ironisch, dass wir ausgerechnet
Weihnachten, ein Fest des Zusammenkommens und Liebevollseins ans
Ende des Jahres getackert haben. Das kann doch nicht gut gehen. Das
ist in etwa so klug, wie dann im Jahr, wenn die meisten Leute
plötzlich und überraschend Geschenke kaufen müssen, als
Hindernisse Marktbuden in die Innenstadt zu stellen. Und für den
maximalen Schwierigkeitsgrad verkaufen die dann auch Alkohol. Was
jetzt nicht so schlimm ist, aber wenn wir dann selber plötzlich und
überraschend einkaufen gehen müssen oder noch viel schlimmer, wenn
einfach so in die Stadt wollen, ist das nur dann lustig, wenn wir uns
auch betrinken.
Ich verstehe das nicht. Wirklich nicht.
Ich persönlich bin ja für Veränderung. Lasst uns doch mal wieder
denken und all diese nervigen Sachen lösen!
Wir lassen das Ende des Jahres schön
in Ruhe, machen es wie unser Instinkt es uns befiehlt und verkriechen
uns im Winter in unserer Höhle. Weihnachten gibt es dann im Sommer.
Da ist in den Städten eh kaum mehr was los, alle hängen in den
Parks rum und grillen und fahren auf Festivals. Wie passend wäre
also ein Weihnachtsmarkt, der im Sommer die Leute in die Innenstädte
lockt? Badehose statt Wintermantel, Sonnenbrand statt Erkältung,
Long Island Icetea statt Glühwein, Rock am Ring statt
Kirchenkonzert. Das wäre doch viel besser. Und im Sommer haben wir
dann auch nicht diese dummen Abschlussdepressionen. Wir müssten uns
zwar ein wenig umgewöhnen, aber das kriegen wir schon hin.
Wobei, ganz umgewöhnen müssten wir
uns nicht. Die Weihnachtssüssigkeiten stünden zur selben Zeit im
Regal.
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