Knecht der Zahl


Ich sitze zu hause und überfliege meine Steuererklärung. Irgendwo kann ich noch ein paar Cents auswringen. Da muss noch mehr drin sein. Mit einem Taschenrechner arbeite ich mich durch die Unterlagen, notiere immer wieder Zahlen auf einem alten Briefumschlag. Der Kugelschreiber gibt manchmal keine Farbe mehr ab. Da muss aber noch mehr drin sein.
Irgendwo im Nahen Osten ist Krieg. Das ist gut, ich habe Aktien von Stahlbauern, Versicherungen und Rüstungsunternehmen gekauft. Mit Freuden schaue ich die Nachrichten und rechne mir im Kopf den Punktgewinn meiner Aktien aus.
Zwei Komma Vier. Fünf Komma Drei. Eins Komma Acht. Tausendfünfhundert. Zweitausendachthundert. Tausendsiebenhundertundfünfzig.
Mein Konto ist üppig gefüllt. Ich bin immer gut mit dem Geld umgegangen und habe hart dafür gearbeitet. Ich habe viele Aktienpakete verkauft, ich bin einer der besten Aktionäre in meiner Filiale. Fest gezurrte Pakete, die mir schnelle Gewinne bringen.
Plus Tausend. Plus Zweitausend. Plus Fünftausend.
Die Scheiche müssen die Ölpreise senken. Um Vier Prozent oder auch um Fünf. Ich habe Aktien abgestoßen. Andere verlieren Geld, ich vermehre meines. Ich lenke es, beherrsche es. Mit meinen Tausendern steige ich aus der Masse auf. Der Pöbel bekommt Hartz Vier, ich verkaufe ihre Kredite.
Plus Zehntausend. Plus Fünfzigtausend. Plus Hunderttausend.
Auf der Arbeit jongliere ich in meinem Büro Millionen. Ganze Wirtschaftszweige liegen in meinen Händen. Ich bin toll, ich bin stark, wenn ich so weiter mache, gehört mir bald die Welt. Ich kann sie kaufen, kann alles haben, denn ich habe Geld.
Fünfhundertdreiundvierzigtausendsiebenhundertsechsunddreißig Euro und Zweiundsechszig Cents.
Einen Strauß Blumen habe ich meiner Liebsten geschickt. Den Teuersten von dem besten bzw. teuersten Floristen. "Weil ich dich so mag, habe ich viel Geld investiert." stand auf der Karte.
Zweiundvierzig Euro und Neunundneunzig Cents.
In den Nachrichten erzählen sie von der Finanzkrise und zeigen die Kurse die fallen. Viele Minuszeichen fliegen über den Bildschirm.
Als ich aus dem Fenster sehe, küsst sich auf der anderen Straßenseite ein Pärchen. Sie umarmen sich, sind fest ineinander verschränkt. Nichts könnte sie trennen.
Sie sehen nicht besonders wohlhabend aus, aber ihre Augen funkeln.
Ich und meine Liebste, wir haben uns noch nie so umarmt, noch nie so geküsst. Hatten wir uns überhaupt schon geküsst? Damals im teuersten Restaurant vielleicht? Auf den teuersten Plätzen der Oper? In dem teuren Wagen den ich ihr gekauft habe? Haben wir uns geküsst?
Die Minuszeichen stehen vor meinen Aktien. Sie sind groß und fett, sie nehmen mir alles weg. Ich schaue hektisch in meine Geldbörse ob mein Geld noch da ist. Es ist da und ich presse es mir ins Gesicht. Es ist kalt. Eiskalt.
Dem Pärchen auf der anderen Straßenseite ist warm. Wohligwarm.
Mein Geld verschwindet, wie soll ich jetzt nur meine Teuerste für mich erwärmen?
Online schaue ich auf mein Konto und rechne im Kopf die Verluste ab.

Null. Null. Null. Null Euro und Null Cents.

Mir ist um Herzen und Kopf warm, als ich so da liege. Ich weiß nicht, ob es die Fürsorge des Pärchens ist oder das Blut, das macht dass es mir warm ist.

Als ich so auf der Straße liege, in den Scherben meines Fensters, überlege ich, wie es passieren konnte. Der Mensch hat das Geld doch erfunden. Es ist sein Werkzeug. Jetzt jagen wir große Zahlen und wollen sie vermehren. Zahlen die nichts bedeuten. Wie kann der Mensch sich nur von seiner eigenen Erfindung beherrschen lassen?

Wie wurde er dazu? Wie wurde er Knecht der Zahl?



Anmerkungen:
Ein Gedanke auf den ich im Rahmen der aktuellen Medienberichterstattung gestoßen bin, aus dem sich eine kleine tragische Geschichte geformt hat.

Kommentare

  1. Man sagt zwar "Der Ursprung aller Macht ist das Geld", aber ich würde mich deiner Sichtweise hier anschließen.
    Kein Geld der Welt kann einem echte Liebe mit all ihren Facetten geben.
    Geld macht nicht glücklich, nur überheblich. Ich sehe das aktuell auch in meinem Freundeskreis. Schlimm wie manche Menschen durch Geld "korrumpiert" werden.
    Sicher wäre viel Geld toll, aber ich gebe mich mit dem zu Frieden was ich mir durch ehrliche Arbeit verdiene. So lange ich damit Leben kann und es meiner Familie gut geht, halte ich es mit dem alten Sprichwort: "Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach."

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  2. Ich schließe mich auch deiner Sichtweise an. Ich habe vor kurzem mal wieder festgestellt, dass der Mensch sich gerne durch matrielle Dinge definiert, obwohl es viel erstrebenswerteres gibt, als Geld. Mein Haus, mein ipod, mein Handy, meine psp, meine wii und so weiter. Die wirklich erfüllenden und wichtigen Dinge, erkennt unsere heutige Gesellschaft nicht an und das wird sich, meiner Meinung nach, auch nicht ändern. Ob in der Werbung oder in der Gesellschaft(z.B. auf dem Schulhof), es geht nur um den eigenen Stellenwert anhand von Geld. Es wird ja so vorgelebt, dann brauchen wir uns auch nicht wundern.

    zurück zum Text:
    Ich finde es sehr schön, wie du den Werdegang der Person beschreibst, gut beschrieben. Besonders gut finde ich auch, dass du es sichtbar machst, dass manche Menschen von dem Leid anderer profitieren, was ja leider auch der Wirklichkeit entspricht. Vor allem dieser Übergang vom "ich besitze fast die Welt, weil ich Geld habe" zu dem "ich zweifel daran, ob ich alles haben könnte, denn richtig lieben und geliebt werden, dass kann ich nicht" finde ich sehr gut gemacht. Einfach die Erkenntniss, dass Geld nicht alles ist und das man auch ohne so viel Geld glücklich werden kann, kommt sehr schön raus. Und ich finde es wichtig, dass du das Thema "Liebe kann man nicht kaufen und Zährtlichkeiten auch nicht" angesprochen hast, denn da stimme ich dir hundertprozentig zu.
    Die anschließende Verzweiflung, wie denn die Partnerin für sich gewonnen werden kann, empfinde ich als Sinnbild, für das, was wir unseren Kindern beibringen. Bringen wir unseren Kindern bei, dass es auch andere Dinge gibt, die man hoch ansehen kann, als teure sachen?
    Ich sage bewusst wir, weil ich denke, dass das jeder ein Stück weit vorlebt, wenn auch nicht so krass wie andere.
    Ich finde auch das Ende richtig gut, denn der Satz: "Zahlen, die nichts bedeuten", zeigt, dass er im endeffekt doch begriffen hat, worum es geht und ich finde es total wichtig, dass wir, jeder von uns, heute versuchen, dafür zu sorgen, dass die Menschheit/ Gesellschaft es begreift, bevor es zu spät ist.

    Total kluger Gedanke.

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  3. Da lob ich es mir ja, dass ich schon an der Primarschulmathematik scheitere. *rofl

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