Wer ich einmal sein könnte

Autor: Jay
Verfasst: 30.03.2009

Wer ich einmal sein könnte

Ich spreche gerne besonders leise und ruhig. "Guten Abend bei der Nachtschicht. Mein Name ist Jay Nightwind und der nächste Song ist für dich, falls dein Nachtdienst gerade vorbei geht und für dich, weil deine Frühschicht gerade beginnt." Ich schiebe gemütlich einen Regler hoch und genieße den letzten Song der Nacht. Hier kommt gleich auch die Frühschicht. Motivierte junge Moderatoren die noch richtig weit kommen wollen. Wohin wissen die selber gar nicht. Nur weit.
Ich pack meine drei Sachen zusammen und steig in meine Jacke. Zu hause wird Findibus bestimmt gerade wieder rumtoben und auf sein Frühstück warten. Ich habe diesen Kater viel zu verspielt werden lassen.
Ich fahre mit der ersten Straßenbahn und bin der erste Kunde im Supermarkt an der Ecke. Man kennt mich hier. Meine Brötchen sind schon fertig verpackt als ich sie abhole und ich bekomme ganz frisches Katzenfutter. Nicht das was bald abläuft aus dem Regal. Manchmal ist es mir unangenehm, ich hab doch gar nichts besonderes dafür getan. Aber die Leute hier stehen mit meiner Stimme im Ohr auf. Vielleicht liegt es daran.
Für mich geht es gleich ins Bett. Mein Tagesablauf ist alles andere als regulär. Wenn andere im Büro sitzen, dann schlafe ich. Wenn andere schlafen, dann sitze ich auf der Arbeit. Ganz selten frage ich mich, ob ich wohl viele spannende Menschen verpasse. Aber ich habe schon genug spannende Menschen kennen gelernt. Ich muss den anderen auch welche überlassen.
Der Zeitlosigkeit des Internets erfreue ich mich, sammle ein paar Nachrichten ein, checke ein paar Mails und bastle an einer Albumrezension. Die wird dann an die Redaktion geschickt und dann wird noch ein kleiner Text für meine Seite gebastelt.
Es ist Wochenende, ich hab frei. Der Kollege vom "Clubmix" hat die Nächte des Wochenendes. Ich steige in meine Klamotten und gehe raus. In die Kneipe mit Freunden, danach in den Club. Wie früher, nur nicht mehr ganz so lange. Am Ende sitzen wir dann mit Rotwein auf einem Balkon und jemand schickt seinen Babysitter nach hause. Wir erzählen uns zum Hundersten mal die Anekdoten von früher und wundern uns, wie sich die Stadt verändert hat. Wir reden uns ein, wir wären immer noch die selben, nur etwas dicker und langsamer.
Montags nachts sitze ich dann wieder in meinem Studio. Ich spreche gerne besonders leise und ruhig: "Hey du Nachtschwärmer, ich hoffe du hattest ein schönes Wochenende. Jetzt geht es in eine neue Arbeitswoche, aber keine Sorge, wir beide machen uns einen entspannten Start." Ich schiebe gemütlich den Regler hoch und genieße den ersten Song der Nacht. Ich fühle mich, als wäre ich wo angekommen. Ich glaube, heute spendiere ich Findibus was besonderes wenn ich nach hause komme.


Kommentare

  1. Das ist eine schöne Vision. Man hat sich aus dem täglichen Stress abgekoppelt und lebt in seinem eigenen Rhythmus.

    AntwortenLöschen
  2. In meinem Kopf formt sich da das Bild eines blond gelockten Helden des Äthers ;-)

    Schöne Vorstellung! :D

    AntwortenLöschen
  3. Bei uns kreischen die Radiomoderatoren immer in ihr Mikrophon, um besonders gut gelaunte Stimmung rüberzubringen. Da wär deine Stimme mal eine sehr willkommene Abwechslung.

    Sehr schöne Vorstellung und entspannende Stimmung, die du in deinem Text rüberbringst.

    AntwortenLöschen
  4. ich sehe dich an den reglern. und du schaffst deinen hörern einen sanften start in die nacht!
    dein stil ist wirklich beeindruckend!

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Anmerkungen? Fragen? Wünsche? Schreib gerne einen Kommentar. Ich schaue regelmäßig rein, moderiere die Kommentare aber auch, also bleibt nett.

Vielleicht auch spannend: