Spät zur Party
Vor kurzem bin ich 40 geworden. Als ich heute früh meine Routinen mache, pausiere ich kurz, schaue mich in meinem WG-Zimmer um und denke, dass ich mich nicht wie 40 fühle. Ich sehe mein Anime-Film-Poster, meine Nintendo-Spielfiguren, so viel anderes. Und dann erinnere ich mich zum einen an meine Therapeutin, wie sie mir eine der besten Fragen überhaupt gestellt hat: "Wie alt fühlen sie sich, während sie in dieser Situation sind?" und zum anderen muss ich an das Denken, was ich von der Psychologin Karen Horney gelesen habe, die sich sehr intensiv damit befasst hat, dass wir aufschlüsseln müssen was wirklich unsere eigenen Gedanken und Werte sind und was für Regeln und Zwänge wir entwickeln, weil Gesellschaft oder Familie oder andere Bezugsgruppen uns da etwas einreden. Was sind wirklich wir selbst und was ist Anpassung um Anerkennung zu bekommen? Und welche Anpassungen sind gute Anpassungen, weil Gesellschaft eben auch gemeinsame Regeln und Haltungen erfordert?
Es sind nicht nur die nerdigen Dinge und Interessen die ich eher mit Jugendlichen verbinde, die machen das ich mich nicht wie in meinem Alter fühle. Es ist auch die Tatsache, dass ich in den letzten Jahren durch einen Haufen von Ereignissen, Gelerntem, Therapie und dem Wunsch sich besser in sich zu fühlen ich mich so sehr verändert und erneuert habe, dass ich manchmal den Eindruck habe, dass ich jetzt nachholen könnte, was ich als Jugendlicher nicht geschafft habe. Ein zweiter Versuch einen beständigen und eigenen Charakter und eine Identität zu bilden. Und während ich den Eindruck habe nach ganz langer Zeit endlich bei diesem Versuch auch Erfolg zu haben - Eben weil ich mich von sehr vielem trenne, was andere mir eingeredet haben, dass ich es sein sollte oder so wäre - trage ich auch den Gedanken mit mir, dass einige Buddhist*innen sagen, dass es "Identität" gar nicht gibt, sondern nur sein. Ironischerweise bilden sie damit einen Baustein ihrer Identität wenn sie daran glauben. Ich selbst denke da häufiger drüber nach und komme nur bis zu dem Punkt, dass ich ganz froh bin zu wissen, dass es auch Menschen gibt, die eben nicht einer Identität nachjagen und darin trotzdem Frieden finden können. Das nimmt mir den Druck raus, weil die Verpflichtung kleiner wird "jemand" sein zu müssen.
Auch dieser Wunsch nach Identität könnte etwas von Außen auferlegtes sein. Kapitalismus braucht, dass wir starke Individuen sein wollen, weil es dann leichter ist viele gleiche Produkte zu verkaufen. Ich finde es immer wieder beeindruckend, dass in den Läden so viele gleiche Sachen hängen und es trotzdem sehr schwer ist draußen zwei Personen zu finden, die zufällig das Gleiche Outfit tragen. Wir wollen Autos in bestimmten Farben haben, weil wir glauben es sagt etwas über unsere Person aus. Wir lackieren uns die Nägel, tragen bestimmte Frisuren, benutzten bestimmte Produkte von Firmen und glauben dann, dass es etwas über unsere Persönlichkeit aussagt. Ich weiß eben nicht ob das was gutes oder schlechtes ist, da müssen sich schlauere Menschen forschend mit befassen. Ich weiß, dass es auf uns wirkt. Ich weiß, dass es uns stärken kann und dass es uns schwächen kann, und sowohl das Stärken als auch das Schwächen kann uns vergiften. Ich weiß, dass mir das häufiger in meinem Leben passiert ist. Ich war vergiftet durch den Versuch unbedingt jemand sein zu wollen.
Jetzt bin ich immer noch jemand. Aber ich habe mehr "Agency". Ich verwende hier das englische Wort, weil es dort in der Sprache eben für Kraft, Handlung und die Möglichkeit zu Handeln in einem stehen kann. Die deutschen Worte die mir dazu einfallen die das ausdrücken sind mir zu negativ geprägt. Durch die Frage wie alt ich mich in Situationen fühle, habe ich den Weg nehmen können Anteile von mir zu erkennen. Anteile sind ein Bild aus den Theorien und Arbeitsweisen des "IFS", dem internalisierten Familien-System an dem unteranderem und führend Richard Schwartz gearbeitet hat. Dinge die ich nur weiß, dank einer sehr guten Frage von meiner Therapeutin, die mich damit auf diese Reise geschickt hat. Und damit auch bewiesen hat, dass wir oft viel dringender eine richtig gute Frage brauchen statt Antworten. Fragen, die uns in jeder Lebenssituation helfen können. Denn Antworten haben immer eine Haltbarkeitsdatum und eine Halbwertszeit, die wir manchmal nicht kennen. Eine starke Frage ist immer gut und hilft uns immer etwas zu erkennen. Auch daher kommt Agency, denke ich.
Der Redewendung nach denke ich oft, ich bin "spät zur Party", was eigentlich eine englische Redewendung ist. Sie sagt, dass viele schon da sind und du selbst eben noch nicht und jetzt schon und vielleicht hast du bei der Party was dadurch verpasst, aber andere waren schneller. Ich mag die Redewendung nicht so gerne, denn sie sagt selten, wie voll die Party schon ist. Denn einerseits glaube ich schon, dass ich mit meinem Weg zu mir Selbst irgendwie spät dran bin, aber das glaube ich eben auch, weil Gesellschaft einem einredet, dass wir ganz früh und ganz schnell wissen müssen wer wir sind, was wir wollen und am besten ist wir identifizieren uns ganz doll mit unserer Arbeit und sowas. Gesellschaft sind dabei nicht immer die Menschen um uns rum, sondern auch eben die Machthabenden, die auf Diskurse und Gespräche einwirken, es ist auch das System in dem wir aufwachsen, lernen und leben. Vom aktuellen bin ich nicht so richtig Fan. Ich glaube ich bin spät zu einer Party, auf der noch gar nicht mal so viele sind. Die Menschen die auf mich im Leben besonders heftig eingewirkt haben und versucht haben mitzubestimmen wer ich sein sollte, bei denen sehe ich immer auch selbst ganz deutliche Zeichen, dass sie sich ihrer Identität und ihrem Selbst nicht sicher waren. Vielleicht sogar Angst davor hatten den Anteilen aus sich Raum zu geben, die gerne eine Berechtigung haben wollten, einen Platz in der inneren Konferenz der Identität. Die dann aber ausgeladen wurden, weil sie nicht zu den Schablonen passen, die Gesellschaft als akzeptiert anbieten. Ironisch, dabei ist Akzeptanz eine Fertigkeit die beinhaltet auch Dinge mitnehmen zu können, die wir nicht mögen, nicht verstehen, nicht durchdringen und nicht verändern können. Sie ist aber eine gute Basis für Offenheit. Und damit für Veränderungen.
Warum schreibe ich das? Ein bisschen für mich, aber auch weil ich es gerne anderen Menschen anbieten mag. Eben weil ich gerade anfange zu sehen welche Lebensqualität möglich ist, wenn Identität anders gedacht wird und einige hilfreiche Fragen immer wieder aufrichtig bearbeitet werden. Ich hoffe dass auch andere Menschen mehr Akzeptanz für sich Selbst finden können. Dadurch die Grundlage sich zu verändern und Dinge los zu lassen, die Menschen für sich selbst und für andere um sich herum schwer gemacht haben. Ich fühle mich oft wie ein Jugendlicher. Dafür gibt es viele (gute) Gründe zur Zeit. Einer ist aber, dass ich das nochmal in gut und schön erleben mag. Ich bin trotzdem 40. Mit den dazugehörigen Verantwortungen. Ich darf aber beides gleichzeitig und nebeneinander erleben. Ich bin spät zur Party, weil wenn ich früher da gewesen wäre, wäre ich in keiner passenden Laune und Identität gewesen. Vor allem wäre ich aber auch nicht Ich. Da wäre keine Version von mir, die ich akzeptieren könnte.
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