Pioniergeist

"Du bist sowas von gekündigt, Hund."
Hubner und Ganter rollten sich schon ein ganzes Weilchen auf dem Tresen meines neuen Arbeitsplatzes rum und obwohl sie beteuerten, dass sie total solidarisch mit mir wären, feierten sie vermutlich nur, dass es sie nicht erwischt hatte.
Beide waren eigentlich Pfeifen feinster Qualität, was schon die Tatsache untermauerte, dass sie gerade ihre Arbeitszeit hier verplemperten, aber man konnte mit ihnen auch über was anderes reden als Arbeit. Sonst zumindest.
"Was meinst du, Ganter, lohnt es sich einen Wettpool auf zu machen, wie lange es dauert, bis er gefeuert wird?"
Man konnte sich seine Verbündeten im kooperativen Kapitalismus, im Büro aber sowieso, nicht aussuchen. Ich erduldete sie auch mehr, als dass ich sie mochte. Ich ging nie ein Bier mit ihnen trinken und auch sonst verhinderte ich jeden privaten Kontakt. Dafür hatte ich meinen echten Freunde und die waren alle nicht hier. Zum Glück.
Seitdem ich also "Chief Executive Data Archiving Facility Manager" war, tauchten die beiden hier jeden Tag auf und boosteten ihr Ego, indem sie sich daran erinnerten, dass sie nicht ins Archiv abgeschoben wurden. Es gab hier nur einen Arbeitsplatz und es zählte als eigene Abteilung. Trotzdem wurde ich jetzt nicht schlagartig zu allen Abteilungsleitermeetings eingeladen, das wäre ja sogar ein Aufstieg innerhalb der Firmenstrukturen.
Dieser Posten ist das Tauziehen mit der Firma: Wer braucht länger um den anderen aufzugeben? Verlässt der Arbeitnehmer zu erst die Firma oder feuert die Firma zu erst den nutzlosen Mitarbeiter?
Es war der Kampf eines fensterlosen Kellergewölbes - das mit den zahlreichen Heizungsrohren nie an Temperatur geizte und flackernden Neonröhren eine eigene Epilepsie-Warnung hätte gebrauchen können - gegen den Willen eines Mitarbeiters. Nur selten blieb jemand länger als drei Wochen, trotz der äußerst unangenehmen Lage auf dem Arbeitsmarkt. Es ging also auch ein bisschen um den Kampf des heißen Kellers, gegen die kalte Realität der Arbeitslosigkeit.
"Ich sage, Hund bricht alle Rekorde. Er bleibt.", behauptete Ganter und war bereit, mit einem Geldschein winkend, darauf auch zu wetten. Meine Anteilnahme an dem Gespräch brach fast unmittelbar ab, ich bedauerte mich nur einen kurzen Moment für meinen Nachnamen.
"Jungs, im Gegensatz zu euch habe ich keine Pause und würde jetzt gerne wieder arbeiten." Die Beiden starrten einen Moment lang. Das Krachen als sie auf den Tresen hämmerten übertönte ihr Lachen kaum. Ich drehte mich um und verschwand in die langen Gänge des Archivs, einen weiteren Ordner in der Hand, den es ein-, an- oder um- zuheften galt.

Es war leicht immer nur die Nachteile dieser Stelle zu sehen, aber als Hubner und Ganter nicht mehr wirklich gut zu hören waren, da Ordner und der Staub der Geschichte ihr Lachen verschluckten, schmunzelte ich kurz, wie man halt so schmunzelt, wenn man sich Problemen entledigt.
Recht hatten sie leider trotzdem. Auch wenn ich stolz auf die Drei-Wochen-Archiv-Marke zu steuerte, war es nur ein Zeitspiel, bis mich der Konzern kündigte. Ich war hier nur ein Kostenpunkt. Genau wie in meiner alten Abteilung. Da wurde ich weg versetzt, da mein Vorgesetzter sich verrechnet hatte, er aber die Verantwortung in meine Richtung abwälzte. In meinem Kopf ruft alles wieder "Turbokapitalismus" und "So ist das halt, der Chef ist nur verantwortlich, wenn es Lob gibt, für Tadel sind die Mitarbeiter da." Kurzum: Die Scheiße fällt von oben nach unten.
Trotzdem hatte ich beschlossen, im Archiv alles zu geben. Wenn mich die Firma entlässt, dann sollte ich es doch bitte erhobenen Hauptes tun können und dann würde ich den ganzen Geschäftsführenden Vorstandmitgliedern bescheinigen, dass ich selbst aus einer Resterampenabteilung noch was rausholen kann; dass deren Strategie Unten zu entlassen, wenn Oben die Luft dünn wird, Mist ist. Die sollten ein schlechtes Gewissen und Skrupel haben. Der alte Sack an der Spitze ganz vorne weg.
Was sich total heroisch an fühlt, ist aber lästige, ewige, gleichförmige Ablagearbeit. Unterlagen zu sortieren, die nur noch in der Vorverwesung verweilen, damit, wenn einer dieser Steuerprüfer oder eine Behörde kommt, man ihnen all diese Akten zeigen kann, die sie sich niemals anschauen wollen.
Was eigentlich schade ist, denn je tiefer ich in die Akten und die Jahre einsteige, desto stärker zeichnet sich ab, was wir hier haben. Eine Firma, die ist nicht einfach nur ein Konstrukt, sie ist auch irgendwie ein Charakter und hier unten, da steht die gesammelte Biographie. Man muss sie nur zu lesen wissen.
Die verweigerten Kredite der Banken, die Suche nach einem ersten Sitz, die Monate in denen keine Gehälter gezahlt werden konnten, da noch nicht raus war, ob das Ganze nur eine dumme Idee oder tatsächlich eine Marktlücke war. Und dann entwickelte sich plötzlich ein Markt und nachdem erst die finanziellen Mittel fehlten, mangelte es plötzlich an Arbeitskraft, an Vermarktung, an Verwaltung. Wie ein Fotoalbum eines Menschen lesen sich die Unterlagen, gelegentlich sind sogar Fotos dazwischen, potentielle Firmengebäude, Urkunden, Zeitzeugen.
Es passierte mir immer wieder, dass ich mich und die Zeit verlor, weil ich mich in die Ideen einer anderen Zeit einträumte. Der Pioniergeist der Vergangenheit zog mich magisch an und bei aller scheinenden Widersinnigkeit weckte er mich, wieder zu träumen.
Die Buchmacher
. Ein kleines Unternehmen, das man dann anrufen konnte, wenn man den Überblick über die Finanzen verloren hatte. Eine zusätzliche Arbeitskraft, wenn in der eigenen Verwaltung die Grippe wieder fast alle ausgeschaltet hatte. Experten, die wie Söldner gerufen werden konnten; mal nur für ein Projekt, eine Woche, dann auch mal wieder für längere Zeit, ganz so wie die Lage es erfordert. Und das Geld es erlaubt. Diese Idee für eine eigene Selbstständigkeit verfolgte mich schon länger. Verfolgen war wirklich das richtig Wort, den aufgekommen war sie, als ich versetzt wurde, besonders stark bricht sie manchmal aber nachts durch. Da werde ich dann wach und frage mich, was mich eigentlich noch aufhält.
Ein scheppernder Knall riss mich aus meinen Gedankenspielen. Die Tür des Archivs war zu gefallen und so hatte ich nicht gemerkt, dass sich jemand bis zu mir im Archiv vorgearbeitet hatte. Und als ich mich umdrehte, wusste ich, dass ich erledigt war.
"Guten Tag!", sagte ich kleinlaut zum Vorsitzenden der Firma. Er hätte hier jetzt schon eine Stunde gestanden haben können, ich hätte es nicht gemerkt gehabt. Er durchlöcherte mein Gesicht mit einem strengen Blick. Er sah noch viel älter aus, als er es immer auf den Titelseiten der Zeitungen tat.
"Wissen Sie, was das Problem ist?", fragte er mich und ich schüttelte den Kopf. Mein ganzer Siegeswille den Job hier unten auszusitzen war verschwunden. Ich weiß nicht, wie dieser zwerghafte Mann es machte, aber mir schlotterten vor Respekt und auch Angst die Knie. "Die Gier." Er begann in ein paar Ordnern herum zu blättern.
"Die Leute glauben, bei der Gier ginge es darum so viel wie möglich anzuhäufen. Sie glauben, es gilt so viel wie möglich für sich selbst anzuhäufen. Ich war davon nie überzeugt. Die Gier der meisten stellt sich dann als nicht wahrhaftig heraus. Ihnen fehlt nämlich eine andere Fertigkeit:" und dann unterbrach ich den Chef, als ich eigentlich schweigen wollte: "Der Geiz."
Aufs schlimmste gefasst, lächelte er aber ganz kurz: "Richtig, der Geiz. Diese Leute haben keine Gier, sie haben Besitzsucht. Und sie wollen noch in ihrem eigenen Leben so viele schöne Dinge besitzen, wie nur möglich. Aber, wenn sie dann die Welt einmal verlassen, wem nutzen die Sportwagen? Die Privatjets?"
Ich hatte keine Idee, worauf der Alte hinaus wollte. Weiter schweigen war keine Option, den er fragte mich, ob wir ein gutes Unternehmen wären.
"Ja, die Zahlen sind eigentlich immer positiv. Wir machen konstant Gewinn." Er schüttelte den Kopf: "Moralisch gut. Sind wir ein gutes Unternehmen?"
Diese Frage konnte ich nicht beantworten. "Nein, sind wir nicht mehr.", sagte der Alte und setzte auch fort:
"Sehen Sie, in diesen Ordnern hier wird die Geschichte eines anderen Unternehmens erzählt, als in den Ordnern, die in den Büros meiner Vorstandsmitglieder stehen. Bei diesen gelackten Idioten geht es nur um Reichtum um Ruhm. Mir ging es auch um Reichtum, aber nur, damit andere Unternehmen nicht schadhaft werden konnten. Clever und Moneysack, sie mögen in Frieden ruhen, haben bestochen, betrogen und gestohlen, wie sich ihnen nur die Chance bot. Ich war vielleicht auch ehrgeizig und aggressiv am Markt, aber schlussendlich ging es mir um Schutz und tatsächlich auch Fürsorge." Er setzte kurz seine Brille ab, wischte über eines der Gläser und fragte mich schlagartig:
"Herr Hund, wissen Sie warum ich hier bin?"
"Nein Herr Duck, ich habe keine Idee."
"Ich habe mir den Fall Ihrer Versetzung angesehen. Die meisten die hier unten landen kündigen von sich aus. Einige wenige andere, erfahren eine andere Situation. Sehen Sie, ich treffe schon lange nicht mehr die Entscheidungen in diesem Unternehmen. Der Vorstand hat aus den Duckschen Betrieben ein beliebiges kaptalistisches und kaltes Instrument gemacht. Ich habe vielleicht keine Entscheidungsgewalt mehr, aber ich habe Geld.
Herr Hund, ich würde mich gerne mit Ihnen über Sie und Ihre Zukunft unterhalten. Vielleicht gibt es ja einen weg, dass ich sie retten kann und damit den Pfeifen im Vorstand eins auswischen kann."
Dagobert Duck, der mit einem einzigen Kreuzer dieses Unternehmen aufgebaut hatte, stand nun gegen es selbst. Gegen seine eigene Idee, weil man sie ihm genommen hatte. Doch plötzlich wollte ich mehr wissen, der Pioniergeist rief nach mir.
"Nur, wenn Sie mir von Ihrer Vergangenheit erzählen, Herr Duck!"

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