Tic Tac Toe

Seine Augen standen kurz vor der Austrocknung, so selten hatte er geblinzelt. Bei seinen Händen verlief es genau umgekehrt – sie hatten lange Zeit nicht mehr in ruhiger Position verharrt. Die Finger waren in eine dauerhafte Unruhe verfallen, hämmerten ein und flitzten umher wie bei einem ekstatischen Pianokonzert. Doch anstatt brachialer, wilder Töne drang an seine Ohren lediglich der immer gleiche Krach, den er so sehr liebte: Klack, Klack, Klack. Nie würde auch nur ein einziges „Klick“ hinzukommen. Ein solches Geräusch existierte in seiner Welt nicht.

Er selbst war nur eine blasse Projektionsfläche. Sogar seine Lippen schimmerten grün. Kein Wunder, hatte er sein Bett seit Tagen nicht mehr mit seiner Anwesenheit beglückt. Die Matratze war inzwischen Hort zahlreicher leerer Dosen geworden, die ehemals Energy Drinks beinhalteten. Deren Vorrat neigte sich allerdings stark dem Ende entgegen, wie er beim routinierten Griff zum Kasten neben ihm besorgt zur Kenntnis nahm – wenn auch nur unbewusst.

Der Lieferant vom „Weißen Hasen“ ließ erstaunlich lange auf sich warten. Vielleicht hatte er während einer seiner regelmäßigen bewusstseinserweiternden Trips aber einfach auch vergessen eine Bestellung aufzugeben. Doch momentan hatte er keine Zeit, sich um seine Vorräte zu kümmern. 23 weitere Sicherheitsschleusen warteten auf ihn.

Die schon lange aufgebrauchten Drogen versuchte er durch Hardcore-Techno der Band „Trinity“ zu ersetzen. Sein beständig wachsendes Zittern konnte er damit aber nicht unterdrücken. Dennoch war er berauscht: von seinen schnellen Fortschritten, die ihn Ebene für Ebene näher an sein Ziel brachten. Die, eigentlich durch Rahmen getrennten, Bilder nahm er nur noch als eine riesige Wand wahr.

Zuweilen war er erschrocken und belustigt zugleich, wie einfach manche Ebenen zu durchdringen waren. Bestes Beispiel war die letzte, die er soeben geknackt hatte, mit dem Password: Swordfish. Die Agenten waren ihm angeblich dicht auf den Fersen, doch hielt er diese Typen sowieso nur für imaginäre Geister. In seinen mittlerweile geschwollenen Augen waren sie absolute Nullen.

Seine Freunde, die erstaunlicherweise jeden Geschmack für Mode vermissen ließen und stets in grellbunten Outfits erschienen und sich zudem verhielten, als ständen sie unter Dauerstrom, wollten ihn immer vom Gegenteil überzeugen. Aber er blendete ihr Geschwafel spätestens dann aus, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Kurz dachte er an seine Mutter, die immer behauptet hatte, er solle froh sein, bei seinem Gebaren und Lebensstil überhaupt Freunde zu haben. Aber eigentlich benötigte er keinen dieser abgedrehten Punks. Sie würden sich sowieso nie so sehr vom Virus infizieren lassen wie er.

Alles, was er brauchte, waren neue Energy Drinkgs, rote und blaue Pillen sowie ein gepflegter Blowjob von irgendeiner Nutte, den er dann am geilsten fand, wenn sie unter seinem Tisch hockte und er einfach mit dem weitermachen konnte, was er immer tat: Die Welt retten, indem er HAL 9000 auf der untersten Ebene mit Hilfe des Spiels Tic Tac Toe zum Stillstand brachte und die Kriegsspiele beendete.

Er war der unscheinbare, verrückte Abschaum der Gesellschaft und dennoch ein Held. Er war ein Nerd. Nein, noch viel mehr als das – er war ein Hacker.

Als der Produzent die Charakterisierung beiseite legte, sprach er mit zittriger, brüchiger Stimme: „Das ist genau die Beschreibung, die wir für die Rolle gesucht haben“. Kurz schluchzte er auf. Der Produzent war dermaßen ergriffen, dass ihm sogar eine Freudenträne über die Wange kullerte. Der Drehbuchautor hingegen lächelte gelangweilt. Immerhin hatte die Beschreibung aus der Mottenkiste seine Miete gesichert - mal wieder.

Dass er diese Beschreibung bereits seit den 1980ern nutzte, musste niemand wissen - und würde vermutlich auch nie jemanden interessieren. Der Drehbuchautor fragte sich lediglich, wie lange er die Beschreibung noch würde nutzen können, um sie an Filmproduzenten zu verkaufen. Große Sorgen machte er sich allerdings nicht: Bisher hatte er nicht den Eindruck als würde sich die Beschreibung in absehbarer Zeit auch nur ansatzweise abnutzen.

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