Fußball und Ich
Als ich noch ein Kind war und das vergangene Jahrhundert gute 90 Jahre alt, war ich kaum dazu fähig mich 90 Minuten lang zu konzentrieren. Ich war Fan von Jürgen Klinsmann- genauso wie meine große Schwester- vielleicht aus anderen Gründen, aber das war mir egal. Ein Fußballspiel über 90 Minuten hinweg zu verfolgen war mir zu langweilig, zu langwierig- insbesondere auf einem Fernseher, der kaum größer war als eine Mikrowelle und der in einer Ecke unserer Gartenlaube hing. Die Erwachsenen starrten darauf als hätte die Bibel angefangen zu flimmern.
Während Jürgen Klinsmanns blonde Strähnen in der verschneiten Mikrowelle flackerten, rannte ich auf dem Rasen zusammen mit meinen Cousins und Cousinen vor dem Haus meiner Eltern immerzu dem Ball hinterher. Meine Hosenbeine waren nicht länger als die Unterarme eines erwachsenen Mannes und übersäht mit Grasflecken.
Als ich noch ein Kind war, schien die Welt aus einem einzigen goldenen Sonnenuntergang gemacht zu sein und mein Vater rief aus der Laube zu uns herüber, dass Jürgen Klinsmann gerade ein Tor geschossen habe. Außerdem hatte irgendein Typ mit einer komischen Frisur Rudi Völler in die Haare gespuckt[1], aber dafür interessierte ich mich nicht so sehr. Jürgen Klinsmann und ich hatten ein gemeinsames Ritual, bevor es losging. Wir standen still, er im Stadion, ich in der Laube zwischen den Gartenstühlen der Erwachsenen. Er hatte die Hände auf dem Rücken, ich hatte die rechte Hand auf der linken Brust- da, wo man mir gesagt hatte, dass dort mein Herz sei. Wir sangen die Nationalhymne- nicht dass ich sie auswendig gekonnt hätte….
Ich wusste allerdings, dass es zwei Versionen gab, von denen die eine mit „Deutschland, Deutschland über alles“ begann. Franz Beckenbauer hätte das wohl nicht gestört. Der hatte nämlich 1974 gar nicht mitgesungen. Die ganze Mannschaft hatte damals nicht mitgesungen [2]. Weltmeister sind sie trotzdem geworden.
Ich wusste noch nicht, was Zeit ist oder Zwang- abgesehen vielleicht von dem Zwang nach dem Spiel ins Bett zu gehen. Ich wusste auch nicht, dass aus mir nie ein guter Fußballspieler werden würde. Die Welt bestand aus goldenen Sonnenuntergängen, aus grünen Kiefern, aus Sandkästen und aus dunklen Brettern, mit denen man Gartenlauben bauen konnte, und daraus, dass Deutschland die beste Fußballmannschaft der Welt hatte.
Als ich kein Kind mehr war und das laufende Jahrhundert gerade mal sechs Jahre alt, konnte ich mich über 120 Minuten hinweg konzentrieren. Obwohl sich das mit dem selbstständigen Denken langsam, ganz langsam, anbahnte, gab es nichts, dass mich so sehr interessierte, wie Fußball. Jürgen Klinsmann war der Chef von Deutschland. Die anderen hatten keine Ahnung. Angela Merkel wurde mir zum ersten Mal und zum letzten Mal sympathisch und ich schlug mich mit Linken in Internetforen herum, die sich daran störten, dass man jetzt wieder stolz darauf sein könne Deutscher zu sein. Schon damals hätte ich einsehen können, dass Fußball mit F geschrieben wird: Zum Beispiel mit F wie Fremdenfeindlichkeit oder mit F wie froh, dass die Türkei nicht qualifiziert war[3]- das hätte bestimmt Bürgerkrieg gegeben…
Alle meine Emotionen, meine Leidenschaft, meine Ängste und Hoffnungen, mein Stolz, meine Liebe und mein Hass konzentrierten sich auf Zeiträume von 90 oder 120 Minuten und ganz besonders auf die eine Minute, in der Esteban Cambiasso gegen den Ball trat und Jens Lehmann die ganze Nation festzuhalten schien[4]. Lehmanns Zettel stellten sie später im Haus der Geschichte aus[5]. Als ich mal da war, war er schon wieder weg. Ich war sehr traurig. Dass die Friedensbewegung der achtziger Jahre nur sehr oberflächlich dargestellt wurde, störte mich weniger.
Als ich noch nicht geboren war und das 20. Jahrhundert gute 54 Jahre alt, da hörten die allermeisten Menschen noch Fußball übers Radio[6]. Viele schalteten erst dazu, als das Finale gegen Ungarn bereits angepfiffen war. Man hatte wieder genug zu Essen, man hatte Arbeit und der Wohlstand kehrte zurück. Gleichzeitig lebten noch Tausende in Gefangenschaft[7] und die Spuren des Krieges waren sichtbar- in den Städten und an den Menschen eines besetzten Landes.
Trotzdem spielten sie in Bern gerade um die Weltmeisterschaft. Helmut Rahn vom Rot-Weiß Essen schoss das Siegtor und Herbert Zimmermann, dessen leidenschaftlicher Spielkommentar heute noch jedem Fußballfan in den Ohren widerhallt, bewahrte vermutlich irgendwo in seiner Wohnung noch drei Eiserne Kreuze und andere Orden auf, die er als Panzerkommandeur erhalten hatte[8].
Als Sepp Herberger und seine Mannschaft samt Pokal mit dem Zug aus der Schweiz zurückkehrten, wurden sie an jedem Bahnhof, an dem sie halt machten, von gewaltigen Menschenmassen als siegreiche Heimkehrer gefeiert[9]. Heimkehrer hatte es in den letzten 10 Jahren viele gegeben. Allerdings war keiner von Ihnen siegreich.
Wir sind wieder wer, soll man damals allenthalben gesagt haben[10]. Aber wer sind eigentlich wir?- frage ich mich heute noch.
Und wer ist eigentlich Fußball? Viele sagen, beim Fußball ginge es nur um Geld. Das stimmt und stimmt gleichzeitig nicht. Beim Fußball könnte es niemals um soviel Geld gehen, wenn es nur um Geld ginge. Beim Fußball geht es auch um Identität, um Mythen und um Traditionen. Vor allem geht es darum, sich als Teil von etwas zu fühlen, das man für größer hält als sich selbst. Sicherlich geht es auch um die Schönheit des Spiels- aber Schönheit ist Ansichtssache. Für die meisten ist der Sieg am schönsten.
Fußball ist sicher auch ein Teil von mir oder auch von uns. Aber wer wir sind, das entscheiden wir jeden Tag neu.
[1] http://www.youtube.com/watch?v=lCdjZ46J2Xk
: Das Lama ab 2:40, Klinsmanns Tor ab 5:20
[2] http://www.youtube.com/watch?v=W4Ljs-WVwX0
: ab 5:45 die singenden und später unterlegenen Holländer, ab 6:47 die nicht
singenden späteren Weltmeister aus Deutschland… Warum das wichtig ist: http://www.bild.de/sport/fussball/em-2012/memmen-gegen-maenner-schon-bei-der-hymne-hatten-wir-verloren-24927612.bild.html
Schöner Beitrag, auch kommentierte und relevante Fußnoten finde ich super.
AntwortenLöschenAußerdem freue ich mich, dich als Mitautoren hier im Magazin begrüßen zu dürfen. Ich bin gespannt, womit du uns in Zukunft noch erfreuen wirst!
Ich bin Historiker. Ich habe einen Fußnotenfetisch...
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