Coming Out

Autor: Jay
Verfasst: 16.05.2009
Überarbeitet: 21.05.2009

Coming Out

Ich hatte gestern ein Coming-Out. Vor meinen Eltern. Die waren gar nicht so schockiert wie ich es dachte. Haben es ganz gelassen genommen. "Wir lieben dich trotzdem.", hat Mama gesagt. "Ich hab es befürchtet.", hat Papa gesagt. Aber gelacht hat er.
Ich konnte das nicht mehr. Dieses versteckte Leben. Immer alles verbergen. So tun als wäre alles normal. Es ist ein Fluch. Die Angst, es würden einen alle ablehnen, weil man einer "von denen" ist. Ich habe mitgelacht, wenn Freunde sich über sie lustig gemacht haben. Ja, ich habe sogar selber Witze gemacht.
Dann habe ich mich dabei erwischt, wie ich nachts die Geschichten von anderen gelesen habe. Wie sie herausgefunden haben, dass sie "es" sind. Die versteckten Anzeichen, die ersten Hinweise. Unsicher habe ich mich selbst beobachtet und bald gemerkt: Ich bin auch einer von "denen".
Ich habe Adressen und Termine für Treffen gefunden. Bin heimlich hingeschlichen. Hab mich getarnt, damit mich meine Freunde nicht sehen. Ich hatte wirklich Angst. Bei den Treffen habe ich mich dann wohl gefühlt. Die waren alle so wie ich. Sie haben viel erzählt und sich mit mir ausgetauscht. Ich bräuchte ja keine Angst haben, es tut auch gar nicht weh. Selbst beim ersten Mal nicht. Es fühlt sich nur komisch an. Die haben mir auch bei meinem Coming-Out geholfen. Haben mir von Berühmtheiten erzählt, die es auch sind. Bei Manchen hab ich es nicht gedacht. Sogar Fußballer sind es und auch einige Politiker. Sieht man denen gar nicht an.
Ich habe mir Bücher zu dem Thema gekauft. Hab mich eingelesen. Manches war echt beängstigend. Einige von uns wurden sogar im zweiten Weltkrieg verfolgt. Wahnsinn. Dabei haben wir uns doch nur frei entfalten wollen. Wir haben doch keinem geschadet. Polarisiert vielleicht. Aber wir sind doch nicht böse, wir verletzen doch niemanden.
Ich habe mich still und heimlich nach einer Baskenmütze und einem Schal für mich umgesehen, ja sogar eine braune Cord-Hose habe ich gesucht. Selbst eine Brillengestell war eine Überlegung. Vielleicht auch eine kleine dünne Sonnenbrille. Sowas tragen die wohl. Hatte ich in einem Internetforum gelesen.
Ich bin total erleichtert gewesen, nachdem ich es meinen Eltern gesagt hatte. Es hat so gut getan. "Wir glauben an dich, egal was du tust oder sein willst. Hauptsache du bist glücklich." Mit diesem Rückhalt, hab ich weniger Angst. Ich denke, ich kann mich der Welt stellen. Ich denke, ich kann mit der Wahrheit rausrücken. Es war so gut es einfach sagen zu können:

"Mutti, ich bin Künstler."




Anmerkung:
Autor und Erzähler sind nicht die selbe Person. Wobei ich sagen muss, auch ich habe mich damit schwer getan zu sagen, dass ich Gedichte schreibe und Künstler bin. Inzwischen bin ich stolz.
Natürlich habe ich den Begriff "Coming-Out" für einen kleinen Überraschungseffekt genutzt, er bezeichnet im Volksmund das Bekenntnis zur Homosexualität oder, in der ursprünglichen Übersetzung, die Einführung in die Gesellschaft. Ich empfand es in diesem Fall als passend.
Nachtrag (21.05.2009):
Ich habe den Absatz bezüglich der Erkennungszeichen im Text verschoben. Danke für deine Anmerkungen. Du hast Recht, ich habe in der Ursprungsversion den Überraschungseffekt zu früh aufgehoben.

Quelle: Bedeutung & Übersetzung "Coming-out"

Kommentare

  1. Liest sich gut, aber es war schon abzusehen, dass es nicht auf Homosexualität hinausläuft.

    Aber ich finde den Text echt voll künstlerisch ; )

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  2. Ja, bei der Baskenmütze hat's sich angedeutet, beim Schal verstärkt und die braune Cordhose war dann der Beweis, dass es sich nich um Homosexualität handelt.
    Das sind einfach zu typische Merkmale für einen Künstler oder zumindest nicht für Homosexualität.
    Wenn du wirklich den Überraschungseffekt am Ende haben willst, dann lass die Passage mit den Äußerlichkeiten raus oder setze sie eher gegen Ende. Nach den Treffen, nach dem "ersten Mal", usw. Dann hat bleibt's einem ein wenig verborgener.

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  3. Ich bin ja der Meinung, dass die Offensichtlichkeit ab einem gewissen Punkt Absicht ist.

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  4. Und ich bin der Meinung, dass Zweideutigkei viel toller is, so dass man erst am Ende überrascht is von der Wendung, spätestens beim erneuten Durchlesen aber einen "achsooooooo"-Effekt hat und um eine Sichtweise reicher ist.

    Allerdings is es gut möglich, dass die Offensichtlichkeit Absicht war. Ich persönlich hätt's halt anders gemacht ^^

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  5. Hätte hätte Fahrradkette!

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  6. Ich hab auch nur darauf gewartet, worauf es wohl am Ende hinauslaufen wird. Dass ein Überraschungseffekt kommen soll, dachte ich mir auch schon - für mich war nur der Künstler nicht abzusehen. Insofern doch eine Überraschung für mich.
    Gut geschrieben!

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  7. Ein wunderschöner Text.Ab Baskenmütze war es aber klar - vielleicht, weil ich mein ComingOut auch schon hatte ;-)

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  8. Super Text.
    In deinem Text finde ich mich total wieder. Es wissen nicht so viele Menschen, dass ich schreibe. Die die meinem Blog verfolgen, ausgewählte Freunde von mir, doch meine Familie und auch viele andere Freunde und Bekannte wissen nichts davon.
    Auch ich habe/ hatte ein wenig Sorge, ob das überhaupt ernst genommen wird und auch deswegen hänge ich es nicht an die große Glocke. Ich kann die Sorgen des Protagonisten definitiv nachvollziehen.
    Die Figur im Text möchte sich gern durch Kleidung zum Künstler sein bekennen und ich denke, dass man da durchaus paralellen ziehen kann, denn Schreiber, die nunmal auch Künstler sind, habe meistens auch 2 Dinge dabei, die sie alle verbindet. Es ist nicht die braune Cordhose und der Schal,
    sondern viel mehr Notizblock und Stift.
    Seitdem ich angefangen habe etwas ernsthafter zu schreiben habe ich diese beiden Dinge immer bei mir, denn mir könnte ja was richtig wichtiges und gutes für einen Text einfallen.

    Vielleicht sollte ich es mal der Figur gleich tun und mich outen, denn sie ist auf offene Arme und Unterstützung getroffen.
    Vielleicht werde ich diesen Schritt bald gehen, vielleicht dauert es auch noch länger. Wer weiß.
    Super Text, finde ich mich, wie gesagt, total wieder drin. Er ermutigt und regt mich zum denken an, ob die Schiene, die ich momentan fahre, dir Richtige für mich ist.

    Super geschrieben.

    und ich finde es gar nicht schlimm, dass man merkt, dass es gar nicht um homosexualität geht, denn ich möchte das nicht miteinander vergleichen, obwohl man paralellen ziehen könnte. Aber dazu nichts an dieser Stelle

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