Diese armen Irren

Ich habe meinen Kaffee vergessen. Auf der Arbeitsplatte in der Küche. In meinem Thermobecher. Mein Kaffee. Als wäre es nicht schon schwer genug den Tag durch zu stehen. Vorlesungen um 8:00 Uhr gehören verboten. Wirklich. Per Gesetz.

Wenigstens hat die Bahn diesmal keine Verspätung. Aber wie jeden Morgen ist die S1 in Richtung Bochum übervoll. So sieht es zumindest aus. Dieses verdammte X-Schema verbraucht aber auch viele Sitzplätze und ich hasse es. Wenn in einer Sitzgruppe mit vier Plätzen nur zwei Leute sitzen, nicht sich gegenüber, sondern natürlich versetzt und damit irgendwie die anderen beiden Plätze abschirmen. Warum eigentlich? Braucht ihr alles so viel persönliche Freiheit? Seit ihr so dick, dass es euch peinlich ist, wenn ihr die anderen berührt?

Nein, ihr könnt nur einfach nicht mehr richtig sitzen. Ihr braucht Liegeplätze oder erhebt euren Rucksack in den Stand einer Person, mit Anrecht auf eigenen Sitzplatz. Und dann habt ihr noch die freche Dreistigkeit darüber zu fluchen, dass in den Bahnen nicht genug Platz ist. Wenn die 8:00Uhr-Vorlesungen verboten werden, hätte ich noch Vorschläge für andere Gesetze.

Gesetzt habe ich mich dann auch. Das Schema mal aufbrechen, einen Platz in der Ecke rausgefischt, bei jemandem der nicht entschlossen genug geschaut hat, als ich seinen Rucksack angeschaut habe. Dieses Pseudo-Schlechte-Gewissen dann immer. So eine leichte peinliche Berührtheit, als wollten die vermitteln, dass sie ja gar nicht wussten, dass jeder zweite Platz auch für andere Passagiere sei.

Na komm, du hast deinen Kaffee vergessen, deshalb bist du jetzt grumpig. An der Uni holst du dir einen am Kiosk und alles ist wieder gut.

"Fahren sie auch bis nach Wattenscheid?", werde ich von dem Herren mir gegenüber gefragt. "Nein. Bochum Hbf." Manchmal fragen die Leute ja, weil sie Angst haben ihre Station zu verpassen. Da helfe ich dann natürlich gerne. "Ach, arbeiten sie da?" Oh nein. "Nein, ich gehe da zur Uni." Ich sehe wie das Gesicht des mittelalten Mannes ein wenig aufklart, wobei er immer noch irgendwie verspannt schaut. Ich bin ihm in die Falle gegangen. Einer dieser Fremden, die sich unterhalten wollen. Aber nicht über etwas spannendes.

"Ach so. Ich habe da auch mal gearbeitet. Zwei Jahre lang. Aber dann in Dortmund gewohnt. Das war aber alles vor der Wende." Ich nicke freundlich, überlege aber, wie ich Desinteresse anzeigen kann. Gespräche morgens in der Bahn sollten auch verboten werden. Nicht nur, weil ich noch nicht richtig wach bin, sondern weil die anderen um einen herum ja auch mithören. Wie schnell etwas peinliches gesagt ist oder etwas privates vor Fremden besprochen. Das passt mir ja gar nicht. "Bevor wir die Ossis wieder dazu gekauft haben. Das war ein Fehler."

Als würde es nicht reichen, dass er mich schon anquatscht, nein, es muss auch noch politisch werden. Wobei es bisher eher verachtend wird. Ich kann aber auch nicht aufstehen und gehen. Wo hin auch? Nur um dann woanders zu stehen und wenn er dann aufsteht und mich sieht, weiß er ganz genau, dass ich vor ihm weggelaufen bin. Wie soll er sich dann denn bitte fühlen? Ich muss es wohl erdulden.

"Wissen sie was die größte Sauerei an der Sache ist?" Rhetorische Fragen, wenn ich jetzt nicht mitmache, sieht er, dass ich genervt bin. Na toll. "Nein.", ganz knapp raus und hoffen, dass es dann bald vorbei ist. Ich ertrage diese armen Irren nur ganz schwer. Zu einsam und kautzig, um zu hause jemanden zum Reden zu haben. Die saugen jeden Anflug von sozialem Kontakt in sich auf. Lasse ich mich nur einen Moment zu lange auf ihn ein, lädt er mich vermutlich zum Kaffee ein. Und da kann mich selbst der kostbare Saft der Wachheit nicht überzeugen. Mit so einem will ich nichts zu tun haben, keine Minute des Tages.

"Das wir denen dann von unserem schwer verdienten Geld diesen Solibeitrag zahlen mussten, damit die auf der faulen Haut liegen können und zuschauen, wie unser Geld für die arbeitet. Das war die größte Sauerei." Entschuldigung, aber das kann ich so nicht stehen lassen. Es ist eines nicht reden zu wollen aber das, "Das stimmt ja so gar nicht. Die Ostdeutschen müssen in ihren Steuern genauso Soli-Zuschlag zahlen wie wir. Die sind also mit sich selbst solidarisch und schauen ihrem eigenen Geld beim Arbeiten zu. Außerdem nimmt die Regierung das Geld schon lange nicht mehr nur für den Aufbau im Osten." Der Mann flackert irgendwo zwischen Wut und einem Lächeln hin und her, was ihn gruseliger erscheinen lässt, als er mir ohne hin schon ist.

Entweder habe ich eine Linie überschritten oder er ist in seiner Überraschung über meine Widerworte eingefroren. Mir scheint, als wäre eine Lotterie in ihm, die auslost, ob er mich anschreit oder: "Das wusste ich gar nicht. Das tut mir leid. Ich dachte immer, wir werden hier um unser Geld betrogen." Dann lächelt er richtig milde. Wie schön, wenn ein Mensch sich Kritik an seiner Aussage annehmen kann.
Huch. Fange ich etwa an den Bekloppten sympathisch zu finden?

Ja, vielleicht. Vielleicht muss ich nur mal über meinen Schatten springen. Ist es nicht das, was uns die Umwelt und Mitmenschen immer so kalt erscheinen lässt? Das keiner mehr mit dem anderen reden will? Wenn ich mich hier umschaue sehe ich auch nur noch Kopfhörer, Bücher und bloß keinen Blickkontakt herstellen. Und nicht Lächeln. Als hätte niemand heute seinen Kaffe bekommen. Als wäre freundlich sein verboten. Ach komm, wo kann schon der Schaden sein, wenn ich mal besser bin, wenn ich mich ein wenig öffne?

"Was wollen sie denn in Wattenscheid?", funkel ich mein Gegenüber mit meinem besten Lächeln an. Der lächelt zurück ist aber auch erkennbar überrascht. Was mir nur Recht gibt. "Ich habe da einen Sprachkurs. Portugisisch. Sehen sie, ich fliege oft nach Südamerika." Siehste, weg mit den Vorurteilen. Der Typ sah vielleicht nicht so aus, aber scheinbar ist dieser Kauz auch ein Globetrotter. "Waren sie auch schonmal in Südamerika?" Ich muss verneinen. "Ist toll da. Und so einfach Arbeit zu finden, gerade als Ausländer. Ganz anders als hier. Ich meine, auch was die rechtlichen Sachen angeht."

Jetzt habe ich doch einen Moment Angst. Hoffentlich rutschen wir nicht wieder in so ein verachtendes Niveau. "Da finden sie auch was, wenn sie die Sprache nicht können. Ein bißchen Englisch reicht eigentlich schon. Aber ich finde das nicht richtig. Wenn ich da mit den Klienten spreche, dann will ich sie auch in ihrer Muttersprache verstehen. Immerhin bin ich Gast in deren Land." Bitte nicht, gleich dreht er es um und sagt was rassistisches. Ich war aber auch naiv. "Ich könnte auch da einen Kurs machen, kommt man als Fremder dort total einfach dran." Und dann seufzt er. "Aber leider muss ich zwischendurch noch für meine Arbeit hier her zurück." Er wirkt aber ausgelassen und glücklich, dass er das mal alles erzählen kann. Ich spüre aber auch, wie er immer wieder auf seine Arbeit führen will. Ach komm.

"Was arbeiten Sie denn?" Und dann atmet er tief ein und macht eine vieldeutende aber wenigsagende Geste. Danach fasst er sich an den Kragen seines Hemdes, schiebt mit den Füßen seine Sporttasche hin und her, die mir vorher nicht aufgefallen war. "Wissen Sie, es kann halt sehr intensiv werden, wenn ich meine Arbeit für die Kunden mache. Da sind nicht immer alle glücklich. Ich will aber, dass alles gut läuft. Und wenn dann mal was auf portugisisch gesagt wird, dann will ich es verstehen. Ich fühle mich dann auch nicht immer ganz wohl, wenn die sich unterhalten und ich nicht weiß worüber." Warum ist er mir so ausgewichen? "Entschuldigen Sie, ich habe noch nicht verstanden, was Sie machen?"

Er schaut aus dem Fenster und  lächelt erleichtert, als er erkennt, dass wir jeden Moment in Wattenscheid sind. Er beugt sich nach seiner Tasche und gibt mir noch einen Blick. Sein Gesicht wandelt sich von skeptisch zu vertraut. Dann zieht er den Verschluss seiner Tasche ein Stück auf und öffnet sie in meine Richtung.

"Ich arbeite mit Menschen." Lederhandschuhe, Knochensäge, Pistole mit Schalldämpfer, sind das Teile eines Scharfschützengewehrs? Alle meine Muskeln spannen an und ich schlage rückwärts gegen meinen Sitz. An dem schiebe ich mich ein kleines Stück hoch und schaue wieder in sein Gesicht. Er lächelt irgendwie viel milder, als er sollte und ich drücke mich noch fester in den Sitz. Hilfe! Sieht denn niemand, dass ich in Gefahr bin? Der Typ ist ein Mörder. Ein Killer. Ich bin gleich tot. Bitte, HILFE! Irgendwer!

In meine Lähmung hinein lächelt er nur schwach, schließt die Tasche wieder und steigt aus der Vierersitzgruppe. Dann zieht er einen nicht vorhandenen Hut vor mir: "Ich wünsche Ihnen noch einen sehr schönen Tag!"

Der Zug fährt weiter und all meine Gesichtsfarbe bleibt am Wattenscheid Bahnhof. Meine Hände zittern. mein Herz rennt den Sprint seines Lebens, vielleicht sogar den Sprint um sein Leben. Meine Muskeln krampfen und mein Atem bricht immer wieder. Ich habe mich gerade mit einem Killer unterhalten. Ich habe mich gerade mit einem Mörder unterhalten. Ich hätte.... Ich könnte....
Na, Kaffee brauche ich jetzt auch nicht mehr. 

Kommentare

  1. Sehr dicht, sehr nachvollziehbar, sehr schön und natürlich nie die Gesellschaftskritik vergessen! ^^

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  2. Anonym11.3.14

    Hahaha, sehr schön! Bitte mehr davon!! (sieh mal: abgefahren, Zug fahren mit Katja Walder)....

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    1. Ist das ein Buch?

      Mehr davon kann ich nicht versprechen, aber ich arbeite immer an mehr.

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  3. Selbst Schuld, wenn Du die Kopfhörer nur zur Deko trägst ;) Und ohne noch weiter Deine schöne Kurzgeschichte zu sezieren, ich sitze tatsächlich im X weil ich gerne Platz habe. Platz ist der wahre Luxus. Dann kann ich in Ruhe in der Bahn schreiben ohne mich verkrampft wie eine Zieharmonika in die Ecke zu falten. Und weniger Platz ist ja dadurch nicht, wird ja wieder aufgefüllt. Und ich weiß es übrigens sehr zu schätzen, wenn Leute nicht mit manisch aufgerissenen Augen Minuten neben mir stehen und meinen Rucksack anstarren als wäre er ein gefährliches Tier sondern freundlich "Darf ich?" oder "Ist da frei?" fragen, dann räume ich mich auch ruckzuck zusammen.

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    1. An der Stelle muss ich mal anmerken, dass Figur und Autor bei meinen Kurzgeschichten oft nicht die selbe Person sind und daher auch nicht die selben Ansichten haben.
      Ich selbst stehe nämlich auch gerne in der Bahn und habe mir dem X-Schema daher auch keine so großen Probleme. ;)

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