keine Ahnung
Viele Redewendungen und Floskeln benutzen wir über den Tag verteilt recht unterbewusst. Wir haben sie mal aufgeschnappt und behalten, wir haben vielleicht eigene Worte für etwas gefunden und verwenden die dann immer wieder, weil es uns am besten vertritt. Manches verwenden alle Menschen, manches ist unser eigenes. Wer uns gut kennt, kann sogar benennen was wir sagen würden, was ein typischer Satz von uns ist, wie wir Dinge betonen. Neben unserem Dialekt, Soziolekt und anderen Einflüssen, haben wir also eine Art eigene Sprache. Unterbewusst.
Ein alter Jugendgruppenleiter fragt mich, ob ich eigentlich wüsste, wo der Satz herkommt beziehungsweise wer diesen Satz besonders geprägt hat? Ich muss nein sagen, vermutlich habe ich mich damals direkt irgendwie gerechtfertigt und bin defensiv geworden. Was ich aber noch weiß, dass ich in einer recht alltäglichen Situation einfach "jedem das seine" gesagt hatte. Das die Nationalsozialisten in ihrem Faschismus mit diesem Satz auch die Ermordung von Menschen gerechtfertigt hatten, das wusste ich erst, nachdem mein Jugendgruppenleiter es mir erklärt hatte und Kontexte hergestellt hat. Nicht nur deshalb bin ich heutzutage oft hinterher von Floskeln und Worten zu verstehen, wo sie herkommen. Es ist eine gewisse Art von Awareness. Es geht dabei aber nicht um eine polizeiliche Betreuung von Sprache. So wie er damals versuche ich nicht wertend mit mir und Menschen zu sein, die es nicht wussten wo etwas herkommt, sondern versuche eine Sensibilität für meine Sprache und mein Umfeld zu entwickeln.
Es gibt Floskeln mit deutlich weniger historischer Aufladung, mit weniger angebundenem Schmerz, die ich und andere häufig verwenden. Auch da muss ich mich manchmal fragen, was ich da gerade überhaupt sage und ob das stimmt was ich sage. In den letzten Tagen ist es mir aufgefallen, weil ich sogar in meinen Selbstgesprächen mit mir - z.B. in meinen Morning Pages - "keine Ahnung" sage und schreibe. Keine Ahnung kommt mir schnell von den Lippen und oft ist es für mich etwas gutes. Denn als jemand der früher versucht hat alles zu wissen und zu verstehen und sehr intelligent zu sein, war ein Zustand in dem ich "keine Ahnung" habe nicht akzeptabel. Von allem etwas wissen oder eine Ahnung haben war aber auch nicht realistisch. Leider habe ich auch sehr genossen, wenn Menschen mir gesagt haben, dass ich ja so viel wissen würde. Wieviel von meinem Wissen sehr ungenau war oder teilweise auch von mir nicht geprüft, das wussten dabei einige nicht, auch weil ich nach Außen oft wirkte, als würde ich alles mit sehr guter Selbstsicherheit sagen. Heute weiß ich und vertrete ich, dass wir richtig viel nicht wissen. Ich kann mir gar nicht so viel so deutlich merken und schlage lieber in einem Buch nach, als in meinem Gedächtnis. Denn das Gedächtnis, auch fürs Wissen, ist recht unzuverlässig. Dann noch ein bisschen Dunning-Kruger-Effekt oben drauf, eine gesellschaftliche Neigung - besonders bei cis-männlichen Personen - seine eigenen Fertigkeiten und Wissen zu überschätzen, und wenn wir dann den Anspruch haben ehrlich mit uns und Mitmenschen zu sein, dann müssten wir viel viel öfter sagen "Weiß ich nicht." oder eben "Keine Ahnung."
Keine Ahnung. Also ich ahne nicht mal etwas. Würde keine Ahnung stimmen, hätte ich nicht mal eine grobe Richtung in die ich gehen möchte. In meinen Selbstgesprächen fällt mir dann aber oft auf, dass ich "keine Ahnung" dann sage und formuliere, wenn ich eigentlich schon ein Weilchen mich mit Fragen und Beobachtungen beschäftigt habe. Oft habe ich keine Antworten oder keine weiteren Bestätigungen meiner Beobachtungen, aber wenn ich präzise mit mir selbst wäre in diesem Fall, dann ist es genau anders herum. Ich habe nur eine Ahnung. Eine unpräzise Sammlung, eine Art Wolke, an Informationen und Gedanken. Aber ich sage "keine Ahnung", denke ich, wenn Anteile von mir ablenken wollen oder eine Thema droht zu anstrengend zu werden. Ich kann es nicht sicher sagen, aber ich befürchte fast, dass ich es so nicht nur in Selbstgesprächen, sondern auch in Gesprächen mit anderen verwendet habe. Und das ist natürlich ein Problem, weil es für andere durchaus schwer sein kann, so wie für mich selbst auch, zu unterscheiden, wann ich wirklich keine Ahnung habe und wann ich eigentlich meine, dass ich das Gespräch gerade nicht weiter führen möchte. Oder ein Anteil von mir.
"Keine Ahnung", so habe ich den Eindruck, steht bei mir und anderen eigentlich für "Keine Lösung". Da ist ein Problem, da sind Daten, da sind Störungen, da ist etwas, was die Energie bräuchte oder wert ist, aber wir haben für das Problem keine eindeutige Lösung und damit sind wir unzufrieden. Wir Leben in einer Kultur wo wir oft glauben, dass wir für alles Lösungen brauchen. Dass der Moment wo wir eine Störung sehen und nicht verstehen normal ist, das vergessen wir. Also brechen wir ab, weil es gerade nicht leicht ist. Was wir bräuchten ist aber keine Lösung, sondern mehr Zeit, mehr Recherche, mehr Daten, mehr Beobachtung, mehr Austausch. "Ich habe nur eine Ahnung", wäre die passende Aussage. Denn ich habe keine präzisen Daten. Aber es ist auch nicht so, dass ich eben nichts habe. Es ist nur zu ungenau, um es greifen zu können. Ich muss da noch mehr Zeit und Energie investieren. Ich brauch Informationen. Ich muss noch abfragen, was andere zum selben Thema sehen und erleben. Ja, auch wenn es um mich selbst geht. "Wie hast du die Situation erlebt?", kann da eine hilfreiche Frage sein, um das Gespräch dafür zu öffnen.
Neben der Arbeit am eigenen Bewusstsein, ist das Überprüfen solcher Phrasen und Sätze auch wichtig für uns als schreibende Künstler*innen. Aber auch in anderen Kunstformen können wir uns fragen: Wo kommt das her, was wir da gerade unterbewusst reproduzieren? Bei Unsicherheiten lohnt es sich dort zu forschen und wenn es nur dafür ist, um die eigenen Unsicherheiten zu reduzieren. Also erst eine Ahnung zu entwickeln und dann eine Sicherheit.
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