Wenn jemand übers eigene Leben hinaus wirkt

Es ist ein seltsames Buch. The Infinite Playground von Bernard de Koven wurde nicht ganz von Bernard de Koven geschrieben. Als ihm klar wurde, dass er vermutlich nicht lang genug leben wird, hat Bernard de Koven Menschen mit denen er zusammengearbeitet hat gefragt ob sie sein Buch beenden und mit ihm fertig machen, während stirbt. Ich schaffe es nicht, es schöner zu sagen. Er wusste er möchte dieses Buch noch erschaffen und beenden. Was entstanden ist, ist ein Blickwinkel von ihm aufs Spielen und Vorstellungskraft und weit mehr Aspekte vom Leben, als das Buch anfangs zugeben möchte. Was aber auch entstanden ist, ist eine Sammlung von Nachrufen von Menschen die er mit seiner Arbeit berührt hat, die erzählen was sie durch ihn gelernt haben und wie er sie bewegt hat.

Anfangs fand ich das unangenehm. Dann erstrebenswert. Ich wollte ein Buch darüber lesen, welche Bedeutung spielen für Kreativität haben kann. Ich hatte dieses Buch und seinen Namen aus Eric Zimmermans "The Rules we break" und fand spannend was Zimmerman da von de Koven zitiert hatte. Jetzt war ich plötzlich auf seiner Trauerfeier und dabei kannte ich den Menschen gar nicht.

Bernard de Koven hat sein Leben der Erforschung und Verbreitung von Spielen gewidmet. Als Verb. Auch als Nomen, aber erstmal als Verb. Und so wie ich die Artikel über ihn lese, fand er Spielen nicht nur gut, sondern er war spielen. Alles drehte sich darum, er hat deshalb zum Beispiel die "New Games"-Bewegung begründet, bei der es vorallem um Spiele ohne Wettkampf und ohne Gewinner*innen geht. Wer schonmal Fallschirmspiele in der Schule, im Seminar oder Zeltlager machen durfte, der hatte Kontakt mit de Koven. Sein Haus ist wohl eine große umgebaute Scheune, die eine der größten Sammlungen aller Spiele aller Länder und aller Arten und aller Zeiten beinhaltet. Das Ziel war eine der vollständigsten Sammlungen zu haben. Allerdings war das Ziel vor allem Spielen. Und Freude. Und das Leben lebendig zu gestalten.

Während wir oft erwarten Spiele mit anderen Spielen zu müssen, sind alle Spiele die de Koven im Buch vorstellt auch alleine spielbar. Und sein ungewöhnlichster Vorschlag: Wir können sonst auch einfach uns vorstellen, dass wir sie gerade spielen, mit mehreren Leuten. Und ich muss sagen, dass auch das sehr gut funktioniert. In der Vorstellungskraft zu spielen, dass wir ein Spiel spielen, das kann gehen mit leichter Offenheit. Und doch ist das Erlebnis ein anderes, wenn wir dann wirklich spielen. Aber so schnell und einfach hat de Koven mich dazu bekommen, seiner Mission zu folgen. Quasi aus dem Grab. Beeindruckend. Und bestätigend für das, was alle seine Schüler*innen und Freund*innen da auch in seinem Buch über ihn schreiben. De Koven wusste wohl, wie mensch anfängt zu spielen.

Eines der Spiele die de Koven vorgestellt hat, habe ich aus Versehen angefangen zu spielen. Und es verbindet sich mit mir gerade auf einer speziellen Ebene. Er nennt das Spiel "Passing Humanity" und du kannst es (fast) alleine mit dir selbst in deinem Kopf spielen. Die Aufgabe ist einfach: Du versuchst, nur durch Lächeln, andere Menschen zum Lächeln zu bekommen. Schaffst du es nicht, ist das eine kleine Niederlage, aber schaffst du es, dann gibst du dem Lächeln Punkte zwischen 1-10 Punkten. Jeder Punkt den du machst, den machst du für die Menschlichkeit. Klingt super albern und nach Hippie-Kram. Und genau das wurde de Koven zu Lebzeiten wohl oft gesagt. Aber hier ist der Turning Point:

Mir geht es zur Zeit nicht so gut. Ich habe Schwierigkeiten mit Menschen in Verbindung zu treten, vorallem Verbindungen zu halten. So ganz sicher kann ich nicht fassen woran es liegt, aber es ist echt. Und leider ist mein "Fenster der Toleranz" nicht so groß wie ich es gerne hätte. Aber ich mag eigentlich, dass es mir besser geht. Und ich habe zur Zeit und immer viele Gründe draußen unterwegs zu sein, also habe ich, trotz Widerständen in mir, gedacht: Ich spiele jetzt genau ein mal das Spiel. Eine halbe Stunde. Eine Strecke die ich unterwegs bin. Und nein: Es hat nicht gemacht, dass meine Phase gerade weg ist. Aber das Spiel hat nicht aufgehört nach der einen Strecke. Denn irgendwas in mir hat Ehrgeiz entwickelt. Wenn jemand nicht zurück lächelt, merke ich, wie ich es nächstes Mal besser machen will. Ich sammele "billige Punkte" ein, in dem ich zurückhaltend Babys im Stadtteil anlächel die dann oft einfach nur das Gesicht spiegeln. Aber ich erwische mich eben dabei, wie ich Punkte machen möchte. Ohne Wettbewerb im Kopf, aber schon mit Motivation. Und ich merke, dass ich mich an bestimmte Momente erinnere.

So habe ich mehrere Tage in Folge zur selben Zeit die selbe Person gesehen, weil sie einen ähnlichen Tagesablauf hat. Und als er am dritten Tag zurück gelächelt hat und einen "guten Morgen" gewünscht hat, da waren das direkt und ohne große innere Diskussion Zehn Punkte zu Gunsten der Menschlichkeit. Und auch wenn es wie gesagt nicht eine ganze Tiefphase wegzaubern kann, und ich selbst auch ein Feind davon war wenn Leute früher gesagt haben "Lächel doch mal", merke ich, dass diese ganz kleinen Momente einen Wert haben und haben dürfen. Weil ich das gemacht habe. Weil ich in Kontakt war, aber ohne Verpflichtung. Weil für einen ganz kleinen Moment eine Verbindung aus einem "Ich" und einem "Wir" entstanden ist. Ein wichtiger Aspekt des Spieles, wie de Koven im Buch auch erklärt.

Als ich so nach ein paar Tagen in dem Spiel durch die Gegend laufe, gerade frisch nach einem stabilen Vier-Punkte-Lächeln, denke ich mir: "Was für ein raffinierter Kerl, diese de Koven. Spielt mit mir ein Spiel, aus dem Grab heraus." Denn ich habe das Gefühl mit seiner Philosophie und Haltung in Kontakt zu kommen, zu verstehen und zu erleben, was er beschreibt. Und selbst eben auch weiter zu führen was er da gemacht hat, weil es sinnvoll erscheint.

Wer auch so manches über Vorstellungskraft und Kreativität lernen mag, aus dem Blickwinkel des Spielens, der kann in diesem Buch sehr viele sehr gute Gedanken finden und ganz sicher werde ich davon auch noch einige in diesen Blog tragen. Wenn es mir wieder besser geht und ich mich traue, werde ich auch vermutlich versuchen wieder mehr zu spielen. Da draußen. Mit Leuten. Bestimmt zum Beispiel diesen Sonntag beim Schreibtisch der Weststadtstory.

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