Wer spielt das Spiel beim Poetry Slam?

In diesem Beitrag wird es im Kern um Poetry Slam als Format gehen. Es wird der Versuch sein, eine Perspektive auf das Format ein wenig zu neuern oder wenigstens zu prüfen. Ob das gelingt, das kann ich nicht vorhersagen, aber ich wollte es schon mal vorne weg schicken. Vielleicht weil meine Ideen zu oft als Kritik, meine Fragen zu oft als Versuch etwas zu bestimmen gelesen wurden in meiner Vergangenheit. Es ist auch der Versuch das Gespräch zu eröffnen.

Zur Zeit lese ich sehr viel übers Spielen. Sowohl den puren Prozess, wie er in einem spontanen Spiel zustande kommt, aber auch darüber, wie wir Spiele designen und entwerfen, aber auch im Sinne der Spielfreude weiterentwickeln können. Im Poetry Slam sagen wir oft "die Punkte sind nicht der Punkt" und wollen damit eigentlich sagen, dass es zwar eine Form von Wettbewerb gibt, der aber nicht im Fokus stehen soll. Spiele sind genau der Ort, wo sich der Wettbewerb auflösen darf. Denn in vielen Spielen ist am Ende des Tages egal, wer gewonnen hat und viel wichtiger, was erlebt wurde. Viele Siege sind nur für kurze Momente und lösen sich direkt wieder auf. So zum Beispiel beim Fangen. Ganz am Ende wissen wir oft nicht mehr, wer "gewonnen" hat, können das auch gar nicht richtig objektiv erfassen. Aber wir wissen von den Momenten, wo wir aufgeregt und in Bedrägnis für uns selbst überraschend einem Versuch uns zu fangen ausgewichen sind, wir erinnern uns, wie wir drei Leute direkt nacheinander gefangen haben. Wir erleben und lernen etwas im Spiel. Denn wir testen aus was wir können und nicht können.

Wir erreichen beim Spielen möglicherweise sogar den "Flow"-Zustand, einen mentalen Zustand, wo wir sehr präsent handeln können, ohne größeres Überdenken und mit Freude eine Sache machen können, die auf der einen Seite für uns herausfordern ist, aber sich auch immer wieder schaffbar anfühlt. In diesem Flowzustand sind wir meist widerstandsfrei kreativ und erstmal unkritisch mit dem was wir tun, weil wir eine sehr pure Verbindung zu unserem Denken und Ideen haben.

Damit wir in einem Spiel das System verstehen, müssen wir die Elemente erkennen. Eric Zimmerman sagt in seinem Buch "The Rules we break", dass jedes Spiel aus drei Dingen besteht: Elementen, also den verschiedenen feststehenden Bauteilen, wozu zum Beispiel die Spielfiguren, aber auch die Spieler*innen gehören. Dann Verbindungen (er sagt "Interconnections" was ich gerade nicht besser übersetzt bekomme), welche aufzeigen in welchem Verhältnis die Elemente zu einander stehen. Die Spieler*innen benutzen die Würfel, um dann die Figuren zu bewegen. Das sind drei Elemente und ihre Verbindungen zueinander. Und das letzte Element ist Sinn bzw. Zweck. Denn die Handlungen des Spieles haben eine Bedeutung. Wir würfeln damit wir die Figur bewegen können, was wir wollen, weil durch das bewegen der Spielfigur wir eine Aufgabe im Spiel erledigen können und das Teil der Herausforderung ist, auch wenn wir durch den Würfel teilweise dem Glück ausgeliefert sind, aber basierend auf dem Glück treffen wir Entscheidungen und diese liegen dann auf der zuvor erwähnten Linie zwischen Skill und Herausforderung.

Würden wir Poetry Slam als Spiel identifizieren, was es meiner Meinung nach im besten Fall sein sollte, dann würden wir als Elemente vermutlich die Texte, die Auftretenden, das Mikrofon, die Bühne, Abstimmungskarten identifizieren. Was wir aber nicht vergessen dürfen, sind aber auch die Moderation und noch viel wichtiger das Publikum. Denn während die Moderation eine Spielleitung ist, hat auch das Publikum eine Rolle, in der sie ins Spiel eingreifen. Sie spielen mit. Ich würde aktuell sogar so weit gehen zu sagen, dass beim Poetry Slam die eigentlichen Spieler*innen das Publikum sind.

Zur Erinnerung wie es beim Poetry Slam abläuft: Eine bestimmte Zahl Künstler*innen stellt ihre Spoken Word Stücke vor in einer - meist zufälligen - Reihenfolge. Das Publikum entscheidet dann - in örtlich sehr unterschiedlichen Varianten - welche Künstler*innen noch ein weiteres mal lesen dürfen, da sich das Spiel über mehrere Runden an einem Abend erstreckt. Oft bleibt ein Poetry Slam in sich eine geschlossene Einheit, bei vielen Veranstalter*innen berechtigt aber auch am häufigsten an einem Abend vom Publikum gewählt worden zu sein, dann an einem anderen Abend in einem "Saisonfinale" oder "Highlander" anzutreten. Die Entscheidung darüber wer weiterkommt, die treffen dabei immer die Zuschauenden.

Die Künstler*innen selbst können das nicht selbst entscheiden, nur durch ihre Auswahl der Texte Einfluss nehmen auf das Publikum, was aber eben keine Garantie beinhaltet, weil gar nicht vorher eindeutig bemessbar ist, was bei einem zufällig zusammen gestellten Publikum Erfolg haben könnte. Damit sind die Auftretenden erstmal für sich in einem eigenen Spielsystem, denn wenn ich das Publikum und die Bewertung wegnehmen würde, dann bleibt trotzdem ein Spiel - ohne Gewinner*innen - in dem die Aktionen der Teilnehmenden teilweise aufeinander reagieren, aber auch alle eine Rolle einnehmen können, die sie sonst im Alltag nicht haben. Wer auf die Bühne geht und etwas performt, schafft eine Version von sich selbst, die es für diesen Ort braucht. Spoken Word ist also Schau- und/oder Rollenspiel.  Der Text auf dessen Grundlage die Rolle gespielt wird, der wird zuhause vorbereitet. Und wenn wir im Vergleich mit anderen Spielen sein wollen, könnte mensch auch sagen, dass etwas vergleichbares zu einem "Kartendeck" entsteht. Die Künstler*innen haben eine Auswahl an verschiedenen Stücken um auf verschiedene Situationen reagieren zu können und Entscheidungen treffen zu können. Es gibt ein Regelwerk für die Auftretenden, dass den Rahmen fürs Spiel beginnt, aber wie in jedem guten Spiel, können eine dieser Regeln auch sehr einfach gebeugt und gebogen werden, was dann wiederum in Wechselwirkung mit der Rolle und dem Inhalt der Auftretenden steht. Da das Beugen und Brechen der Regeln in gleicherweise allen zur Verfügung steht, sind diese Grauzonen wiederum sehr fair aufgeteilt.

Das Publikum, egal ob es zum Abstimmen eine Jury gibt, wo nur einige wenige im Publikum mit Zahlenwerten darüber bestimmen - also quasi einem Würfel dessen Wert sie selbst bestimmen jede Runde - oder auch wenn alle Zuschauenden in irgendeiner Form eine Stimmabgabe machen, versucht dabei durch die Abgabe der Stimmen die eigenen Favorit*innen zu begünstigen. Sie können sich aber auch gegenseitig beeinflussen. Durch Applaus, durch Gespräche, durch Reaktionen auf abgegebene Wertungen. So ist es auf Slams schon häufiger vorgekommen, oft auch begünstigt durch die Moderation, dass niedrige Wertungen für Texte ausgebuht wurden und damit Publikum versucht Wirkung auf Publikum zu nehmen, während der Text und die Auftretende Person eben nicht ausgebuht wurde. Das Publikum verändert nie das Werk der Auftretenden. Die Dynamik des Abends kann höchstens die Textauswahl der Auftretenden beeinflussen, aber das betrifft eben auch immer nur die, die auch weiterkommen auf der Bühne und diese Entscheidung fällt immer nach einer Präsentation und liegt damit voll beim Publikum.

Die beiden Spielsystem sind miteinander verbunden, wirken aufeinander und schaffen eine sehr asymetrische Situation, weil es so wirken könnte, als wäre der Wettbewerb in der Kunst auf der Bühne, die aber gar keine objektiven System hat um Punkte zu zählen. Denn während andere Spiele klar definieren, wann jemand einen Punkt gemacht hat in den Regeln, ist das im Poetry Slam eben nicht Teil des Kosmoses der Spielenden. Welche Wirkung wird klar, wenn mensch dieses System auf ein anderes Spiel überträgt, das vielleicht nicht Kunst als Basis hat, aber trotzdem Vorbereitung und Entscheidungen. Was für ein anderes Spiel wäre zum Beispiel Basketball, wenn zwar auf dem Feld alles wie immer läuft, aber die Punkte und die Höhe der Punkte für ein erfolgreiches Einnetzen des Balles beim Publikum oder einer (Fach-)Jury liegen würde?

Das Spiel wäre dann eines des Publikums. Sie würden gegeneinander antreten und versuchen für ihren Spielzweck Entscheidungen zu treffen. Aber im Sport ist die Entscheidung, dass Publikum und Fans nur durch ihre Performance als solche passiv Einfluss auf die Emotionen und Leistungen der antretenden Athlet*innen nehmen können und dadurch auch auf deren Entscheidungen und den Verlauf. Im Poetry Slam ist das andersherum. Da können die antretenden Künstler*innen nur passiv auf die Entscheidungen des Publikums Einfluss nehmen. Und dann löst sich am Ende einer Veranstaltung das Publikum als Spielgruppe und Masse auf und findet sich in einer anderen Zusammenstellung zum nächsten Poetry Slam zusammen.

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