Strong Style und Genres

Bild gezeichnet von Antimaterie

Shinsuke Nakamuras Auftritt hatte mir noch den Mund offen stehen lassen, denn auch wenn die Fans vergessen haben zu reagieren während der japanische Wrestler die Rampe zum Ring herunter läuft, ist direkt zu sehen, dass es jetzt etwas anderes, etwas neues gibt. Seine Bewegungen nur schon beim Gepose beim "Entrance" sind ausladend, erinnern mich an Videospielfiguren oder Popstars bei Konzerten. Es ist alles irgendwie theatralisch, macht aber eben auch neugierig.

"Alter Vatter", sage ich sehr ruhrdeutsch und "joooonge", sehr rheinländisch direkt hinter her, als ich sehe, wie Shinsuke Nakamura in seinen Kontrahenten mit Knien und Ellbogen reingeht. Wrestling ist kein echter Kampf, eher eine improvisierte Performance die Elemente des Kampfes als Erzählmittel benutzt. Aber alles Wrestling dass ich vorher gesehen habe hat eben auch deutliche Anzeichen dass es kein echter Kampf ist, einfach weil ein Haufen der Angriffe zwar spektakulär aussieht, aber rein aus einer kämpferischen Sicht äußerst ineffektiv ist. Und wer Wrestling lange schaut und die Hintergründe versteht sieht auch einfach oft, wie die Performer*innen ihre Schläge abschwächen, extra ein bisschen verfehlen oder das bekommen eines Treffers unverhältnismäßig deutlich verkaufen. Nicht so bei Shinsuke Nakamura, bei ihm sieht es fast aus, als hätte ihm niemand bescheid gesagt, dass der Kampf nicht echt ist. Mauro Ranello, der Live-Kommentator für die Zuschauenden zu hause sagt es ganz deutlich und mit aller Begeisterung fürs Spiel: "THIS ist japanese Strong Style!".

Strong Style ist ein Stil im Wrestling der recht modern ist, wenn auch es schon eine längere Reihe von Wrestler*innen gibt, die versucht haben diesen Stil heraus zu prägen. Wobei ihren Ziel nicht war einen Stil zu begründen, sondern vorallem erstmal einen Stil für sich selbst zu finden der ihnen Freude bereitet oder etwas vertritt, wofür sie stehen wollen. Und das Ziel der Strong Style Athlet*innen war, etwas anzubieten das hart und so echt wie möglich aussieht. Etwas was den eher ungeschulten Kritiker*innen von Wrestling die Grundlage für ihre Kritik nimmt. Denn wenn die sagen "Aber das tut ja gar nicht weh, weil Wrestling ist nicht echt.", dann kann es eine gute Idee sein Treffer zu zeigen, die keinen Zweifel daran offen lassen, dass es weh tut. Treffer die die Frage wieder aufmachen können, ob die Kämpfe nicht vielleicht doch echt sind. Und mit ausreichend Vertreter*innen einer solchen Haltung, hat sich ein Begriff für einen Stil gebildet.

Es gibt einige andere Stile im Wrestling, die entweder Regionen oder bestimmen performativen Schwerpunkten zugewiesen sind. Manche Stile sind sich sehr ähnlich oder quasi das Gleiche, haben aber verschiedene Namen an verschiedenen Orten. Technical Wrestling, Powerhouse, Shoot-Wrestling, High Flyer, Lucha Libre, Catch Wrestling, Llave und noch unzählige mehr. Stile erlauben den Fans und Kenner*innen leichter Gespräche über die Performance zu haben, aber eben auch eine Historie anzulegen und weiter zu tragen. Es zeigt welche Vorbilder, Mentor*innen und Trainer*innen Performer*innen möglicherweise haben.

Wenn wir Wrestling als Performance-Kunst verlassen, dann finden wir auch in anderen Kunstformen Stile, Genres und Epochen. Rockmusik, Impressionismus, Street Art, Akt, Musical, Flamenco, Action, physical Comedy, Method-Acting, Breakdance, Techno, Sturm und Drang, Future Funk, Horror, Improvisation, Klassik, Dokumentation, Schwarz-Weiß und so viele mehr. Auch da helfen Stile allen Beteiligten. Sie geben eine Kunstform Tiefe, sie geben Künstler*innen Worte um sich auszutauschen und zu recherchieren und sich zu identifizieren. Sie geben den Wikipedia-Artikeln Überschriften. Und ja, das finde ich wichtig. Wenn Sachen es ins Geschichtsbücher und Archive schaffen in Erwähnung, dann sind sie eben auch relevant.

Und hier wird der Artikel auch zu einem Kommentar, denn ich ärgere mich wirklich darüber, dass wir im Spoken Word und Poetry Slam diese Gelegenheit nicht mitnehmen. In meinen vielen Jahren sind mir keine Namen von konkreten Stilen bewusst, die nicht vorallem und hauptsächliche Geringschätzungen von bestimmten Stilen auf der Bühne waren. Klar, es gibt schon literarische Gattungen die wir zum Teil auf der Bühne repräsentieren, aber wir haben sicher auch Stile, schon alleine durch bestimmte Zeitgeist und Trends. Aber wir geben den Sachen keine Namen, wir forschen nicht in unserer eigenen Kunstform und wir trauen uns nicht etwas zu definieren. Auf der Bühne wollen wir uns daran beteiligen Teil eines Gesellschaftlichen Gesprächs zu sein, aber wir verpassen die Chance uns zu definieren. Ich wünschte Spoken Word hätte Stile. Ich wünschte ich könnte eine Wiki-Seite online haben, wo ich nachlesen kann was es gibt. Wo ich schauen kann von wem ich es lernen könnte. Und wo ich nachschauen kann, ob ich vielleicht selbst etwas neues erfinden muss, weil in allen bestehenden Stilen schon etwas fehlt, das etwas wichtiges für uns, die Szene und unsere Kultur tut.

Zur Zeit wrestlet Shinsuke Nakamura nicht so viel. Ich schaue alte Matches von ihm gerne an, aber wenn ich mehr in der Art suche, dann gebe ich Strong Style bei Youtube ein und werde fündig. Ich wünschte Spoken Word hätte einen Strong Style.

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