Remembering means forgetting

Wenn ich jetzt von dem einen Mal erzähle, wie ich als Kind in einen Abwasserkanal gefallen bin, dann tue ich das jetzt. Und damit verändere ich, weil ich jetzt andere Erfahrungen gemacht habe, anderes Wissen über mich habe, was vielleicht wirklich die Erinnerung war. So abstrakt Erinnerungen sein mögen. Wenn wir Kunst von verstorbenen Künstler*innen also ins Jetzt ziehen und Kontext herstellen, dann erinnern wir nicht ihre Kunst. Wir machen etwas neues damit. Und das ist vielleicht auch, diese Kunst zu überschreiben.

Es gibt eine - ich habe sie nicht gesehen - recht oft zitierte und in Videoausschnitten gezeigte Folge von Doctor Who, wo Vincent Van Gogh ins Jetzt gezogen wird und Menschen in einer unmöglichen (weil die Gemälde nicht alle an einem Ort sind) Galerie sieht, wie Personen auf seine Kunst reagieren. Er selbst reagiert dabei unfassbar berührt und weint. Mich hat diese Szene aufgrund ihrer filmischen Qualitäten auch sehr berührt. Für den Moment.

Alan Watts sagte in seiner Lecture "the eternal now" auch, dass die Vergangenheit immer vorbei sein wird und alles ist immer jetzt. Denn ich kann nichts aus der Vergangenheit hören. Ich kann keine Erinnerung aus der Vergangenheit holen, weil wenn ich sie abrufe, dann tue ich das im Jetzt. Wenn ich eine Geschichte "von früher" erzähle, dann ist es eine Geschichte im Jetzt, weil ich meine aktuelle Laune, Stimmung, meinen Zustand, das alles mitnehme.

"Remembering means forgetting" soll Christoph Schlingensief gesagt haben. Und ich könnte nur Thesen aufstellen, weshalb er das gesagt hat, die eben seine damalige Intention mit meiner jetzigen Überschreiben würden. Vielleicht ein Prozess, den wir auch gar nicht verhindern können. Gemessen an dem Artikel über seine Arbeit und sein Denken in dem Buch "the truth is concrete", schien Schlingensief eben nicht daran zu glauben, dass seine Absichten ihn überleben könnten, weil er nach seinem Leben keinen Einfluss mehr darauf hätte, was mit ihm und seinen Werken passiert. Mit den Erzählungen über ihn. Und mindestens ein deutliches Indiz dafür ist, dass es eben keine öffentlichen Diskussionen mit ihm und um seine Kunst mehr gibt. Denn die gab es, als er noch gelebt hat.

Lang dachte ich, dass Kunst machen auch ein Weg ist, sich übersterblich zu machen. Eine Sache zu schaffen, die über das eigene Leben hinaus geht. Aber gerade fange ich die Haltung an zu entwerfen, dass es eben alles nur für den Moment ist. Jeder Auftritt, jedes Stück, jede Kunst, sie wird irgendwann nicht mehr erinnert werden können, sondern überschrieben sein mit neuer Bedeutung. So übertragen wir Platons Höhlengleichnis auf die heutige "Fake News"-Diskussionen, nehmen Aussagen von alten Philosophen aus ihrem früheren Kontext und basieren darauf entweder unser ganzheitliches oder toxisches Weltbild.

Das Gedächtnis der Menschen ist schlechter als wir uns zu gestehen. Wir verfärben alle Erinnerungen immer mit all dem was wir in dem Moment empfinden, in dem wir erinnern. Wir haben keine Kontrolle darüber, sonst gäbe es keine Trigger, keine Traumareaktionen, keine Uneinigkeiten, wenn wir alte Wahrnehmungen abgleichen. Vielleicht ist es wertvoll, die Zeit mit einem loseren Griff zu halten.

Kommentare

  1. Anonym3.5.24

    Da sind Gedanken enthalten, die ich interessant finde. Aber ich stoße mich auch an ein paar Stellen. Wenn alles immer nur jetzt zählt und die Vergangenheit egal ist, kann das sicher entspannend sein. Es lädt aber auch dazu ein, die Verantwortung für alles abzulehnen, was gestern war, weil es dann ja schon nicht mehr richtig erinnert werden kann/nicht mehr wichtig ist. Da ist die Grenze in andere toxische Verhaltensweisen nicht weit weg.

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    1. Da steht ja auch nicht das die vergangenheit egal ist, sondern eben vorbei. Alles was ich damit tun kann, liegt aber im jetzt

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  2. Anonym5.5.24

    Ein Moment ist ein bisschen wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und unser Erinnern ist nur eine Welle, die er verursacht hat, aber nicht der Stein selbst.

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    1. Anonym5.5.24

      Oh und deswegen liebe ich wiederkehrende Motive und Reprise (Reprises? Was ist die Mehrzahl) in Musicals so sehr? Weil da an eine bereits bekannte Melodie oder Empfindung oder wie auch immer man es nennen will erinnert wird, aber sie eben in einen neuen Kontext gesetzt wird und dadurch bedeutungsreicher wird.

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