Kurzgeschichte: Visionen
Es lag immer ein Geruch von Rost in der Luft. Ganz sicher war die Politur lang nicht aufgetragen worden, weil er ein nachlässiger und sturer Schafskopf war. Bestimmt hatte er den Arm wieder abgekoppelt und anderweitig verwendet. Als Türstopper oder um sich am Rücken zu kratzen. Warum er seinen Arm verloren hatte war irgendwie unklar, er selbst erzählte immer eine andere Geschichte und irgendwie wusste ob er es selbst nicht mehr wusste oder ob er ausweichen wollte. Die Geschichten waren wahr, so ist es nicht, höchstens etwas übertrieben erzählt, weil er eben schon immer ein Geschichtenerzähler war, aber ob er genau bei diesem Abenteuer auch seinen Arm verloren hatte, das war nachher unklar.
Er hat das vorhergesehen, sagt er, weil er sich tief in seinem Inneren fühlte als konnte er sich dran erinnern. Er wusste, dass das eine Art der Erklärung ist, die aber ein Wort verwaschen sollte: Generationales Trauma. Eine Verletzung seines Urgroßvaters, den er nie getroffen hatte, war irgendwie über Gene, DNA, unterbewusste Aufnahme oder auf magische Weise wie eine Erinnerung bei ihm angelegt. Er wusste immer, dass es ihm nicht passiert war, er hatte es immer als eine Art Vision gedeutet. Dann wurde sie wahr. Er sagt immer: "Du fällst dahin, wo du hinschaust." Was er wohl mal beim Sport gelernt hat. Ist auch nicht ganz falsch. Ich versuche seitdem nicht mehr auf den Boden zu schauen. Aberglaube.
"Machst du nur irgendwelche Bewegungen oder hast du wirklich gelernt was du da machst?", fragte ich ihn, als ich ihn auf der Rückseite seines "Hauses" Übungen machen sah. Eigentlich war das mal sowas wie ein Wohnmobil, aber weil er nicht damit reisen wollte, wurde es nach der ersten Fahrt zu einer Art festen Camp. Eine feste Hütte irgendwo am Rande eines Stück Waldes, dass seinen Freund*innen gehörte. Ich war froh, dass er nicht einsam war, auch wenn er viel alleine war. Er und das Exil hatten sich irgendwann ganz gut angefreundet. Aber er trennte sich von niemandem. Er kam nur irgendwann kaum mehr raus, "zum Spielen", wie er sagte. Wenn sich vermeiden ließ. Aber viele wussten wo er ist, so dass einige immer wieder hier rauskamen und brachten Fragen mit.
"Du kannst ein paar Ohrlaschen bekommen, dann weißt du ob ich weiß, was ich hier tue.", sagte er mit dem korrekten Lächeln um zu zeigen, dass er niemals wirklich Gewalt anwenden würde. Für ein familiäres Raufen waren wir wohl beide zu alt. Ein paar langsame Bewegungen setzte er fort, dann umarmte er mich. Der kleine alte Mann griff mir dabei um die Hüfte, während ich seine Schultern umarmte. Ich war schnell größer als er, diese Art der Umarmung wurde zufällig unsere. Eigentlich gehörte sie zu ihm und meinem anderen Elter, aber irgendwann gab er sie mir als schöne Grüße dahin mit. Bei den Beiden war alles okay, aber während er sich kaum mehr bewegte, musste das Gegenüber immer weiter Welten und Sprachen sehen. Also machte er, was er immer machte: Er fand einen festen Punkt für sich und wartete, wann jemand zurück kommt. Immer treu, so hatte er es allen seinen lieben Menschen mitgegeben. Und während die von Welt zu Welt wollten, blieb er hier, damit er gefunden werden kann.
So auch von mir. Nach der Umarmung gab es einen Tee und ein schnelles einfaches Essen, ein paar Sachen die es im Wald so gab. Wir saßen in diesem angerosteten Schlachtschiff, im Inneren zu gleichen Teilen Schlafsofa, Bibliothek und zu klein.
Auch ich war mit einer Frage hier, so wie es andere auch taten. Der alte Mann auf dem Berg zu sein war schon lange sein Ziel. Durfte er es sein, war er glücklich. Wenn er lebendig wurde in so einem Gespräch, er seine Fragen stellte, dann war jede Distanz die wir sonst zwischen uns haben konnten weg. Seine Distanz war keine Kälte. Das musste ich auch erst lernen, seine Distanz war Unsicherheit vor den Regeln dieser Welt. Sobald er Regeln bekam die Sinn ergaben, war er in diesen so herzig, dass es fast unangenehm war.
Der Tee dampfte vor mir und warf einen Nebel wie diese Geschichte über sich. Wir konnten nicht verstecken, dass auch das so eine Vision oder ein Traum war. Eine mögliche Zukunft. Eine langsame. Eine die er schaffen könnte.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Anmerkungen? Fragen? Wünsche? Schreib gerne einen Kommentar. Ich schaue regelmäßig rein, moderiere die Kommentare aber auch, also bleibt nett.