Der beste Text aller Zeiten: Unterschätzte Rapclowns

Deichkind ist so eine Gruppe, die in einem Korb mit Scooter liegen. Und da beide in Hamburg ihr Hauptquartier haben, ist das auch gar nicht so unpassend vielleicht. Wer an die Gruppe denkt, hat vielleicht noch "Bon Vojage" als klassischen selbstverherrlichen Raptext im Ohr, ansonsten ist Deichkind vorallem mit Party und Eskalation verbunden. Auch die 257ers aus Essen haben den Ruf vorallem stumpfe alberne Texte zu machen, ihr größter Hit Holz gilt gleichzeitig als irgendwie dämlich, aber auch rätselhaft weil echt niemand weiß, was die Truppe damit wollte. Ich will heute für diese Leute ein bisschen eine Lanze brechen. Weil, vielleicht nur um zu zeigen, dass sie es können, haben diese Gruppen auch anders gelagerte Texte und Stücke.

Fangen wir mit den Essenern an, weil wegen mein Lokalpatriotismus. Und da geht irgendwie die Stimmung auch direkt hin. Zu einem Zeitpunkt, wo die offiziellen Stellen der Stadt mit großer Freude den zu recht leicht zu mögenden Koch Nelson Müller mit seiner musikalischen Liebeserklärung an die Stadt Essen gefeiert haben, brauchte es vielleicht trotzdem auch nochmal etwas von einer Gruppe, die die Essener*innen auch selbst als eine von ihren sieht. Oder richtig dolle nicht. 257 polarisiert hart. Und genau da liegt ja auch der Knackpunkt. Denn wer nur deren Spökes kennt, weiß nicht, dass sie auch zu so einer Liebeserklärung an eine Heimat und vorallem die Heimat im Ruhrpott im Stande sind:



Und klar, wir sind hier immer noch ein bisschen albern unterwegs, wenn dann das Bier als Maßstab fürs Zuhause gewählt wird, aber dann schaue ich auf die Essener*innen und sage, dass das bei uns schon ein Ding ist. Ich meine ich trinke fast gar keinen Alkohol mehr und verteidige trotzdem die Stauder-Braurei in Essen in jeder Diskussion. Die Jungs haben einen Nerv getroffen, aber eben auch ganz klar Gefühle.

Die Tatsache dass das Video zum folgenden Lied unter einer Million Ansichten auf Youtube hat, macht was mit mir. Ich glaube dass da die Fanbase nicht mitgegangen ist, während Deichkind ein absolut fantastisches sensibles Stück geschaffen haben. Ich mochte das Stück schon vorher, aber besonders tief ging es rein, als wir mit dem Auto zur Reha eines Familienmitglieds gefahren sind, nach einem fast tödlichen Unfall. Wir sind über dunkle Landstraßen gefahren und ich habe Luftbahn auf Kopfhörern gehört und das Gefühl der Sehnsucht das alles verlassen zu können, das kannte ich da besonders gut und erlebe ich auch jetzt immer mal wieder. Die Erlösung weil mensch die Situation verlassen kann, sie Sehnsucht nach Leichtigkeit. Deichkind hat da in Worten getroffen, was ein sehr abstraktes Gefühl in mir war. "Manchmal muss man einfach raus, denn manchmal ist die Welt zu klein." Jo, so ist es. Das Video ist trotzdem etwas albern. 


Bevor es mir jemand in den Kommentaren sagt, ich bin mir dessen bewusst, dass es auch möglicherweise als Parodie oder Scherz gedacht gewesen sein könnte. Aber das ist das tolle an guter Kunst und starken Texten: Wenn du sie als Künstler*in loslässt, kannst du nicht bestimmen was sie auslösen. Deine dümmsten Witze können jemandem die Woche retten, vielleicht sogar das Leben. Dein schönstes Bild einer Giraffe kann machen, dass jemand mal wieder mit seinen Eltern spricht. Es ist ein wundervolles Rätsel, was die Kunst da macht und bewirkt und mit uns macht.

Und es gibt einen Grund weshalb ich nicht glaube, dass es ein Scherz war. Denn Deichkind hat in meiner Wahrnehmung pro Album genau so eine Nummer, die in ein anderes Register will, als die ganzen Fun und Punk Tracks, die um Party oder Kritik an Leistungsgesellschaft gehen. Und ein weiteres Beispiel dafür ist der Mond. Ich weine regelmäßig zu diesem Stück. Weil ich so oft Angst hatte in meinem Leben, ich wäre wie dieser Mond.



Dass Ferris MC bei diesem Musikvideo auch am Anfang in der zentralen Position steht und den Refrain singt, empfinde ich als passend. Von dem was über Ferris Leben in der Öffentlichkeit bekannt ist, ist es reichhaltig an Krisen und Schicksalschlägen gewesen. Das Gefühl der emotionalen Ausgebranntheit die ein heftiges Leben mit sich bringen kann, die Gefühle der Isolation, auch hier haben die Deichkinder etwas umrissen, was schwer zu beschreiben sein könnte, wenn mensch nicht die Reise antritt es zu versuchen. "Der Mond" ist ein fantastischer Versuch. Und ich habe den Verdacht, dass der Mond und die Luftbahn musikalisch miteinander verwandt sind. Aber dafür kenne ich mich nicht gut genug mit Musik aus um das voll beweisen zu können.

Was ich beweisen kann, dass Deichkind das wirklich schon immer konnten. Denn auch noch am Anfang der Karriere der Band, wo sie sich deutlich weniger elektronisch und ravig angehört haben, gab es schon diese emotionalen, im folgenden Fall aber viel mehr noch persönlichen Tracks.



Ja, es hilft dem Gefühl sehr, dass die Rapper hier ihre eigenen Erfahrungen aufmachen und nutzen. Viel weniger lyrisch, viel klareres Storytelling als in den anderen Stücken. Ja, es hilft, dass mit Bintia eine einprägsame starke Stimme den Refrain anbietet. Und so ein paar Geigenstriche im Hintergrund sind auch ein guter Verstärker. Aber das bringt halt eben nicht über den Punkt weg, dass die beschriebenen Situationen auch ohne Beat und Musik nachfühlbar sind und gemacht werden. Und sobald mensch dann einmal Fern-, Heim- oder Vermissungs-Weh hatte, ist dieses Lied plötzlich ein treffender Wegbegleiter. Ja ja, auch dazu habe ich schon ein paar mal geheult.

Hier mit schließe ich meinen Fall: Einige Kasper - haha- im Hiphop sind eben mehr als das. Ein guter Narr versteht oft mehr, als er zugibt. Und das ist wo ich Deichkind und die 257ers persönlich vermuten mag, als Scherzkekse, die so sind, weil die Melancholie der Welt sonst nicht aushaltbar wäre, aber eben trotzdem wichtig zu besprechen und zu beschreiben ist. Wer weiß, vielleicht, während das Traurige die Freude in unserem Leben wegnimmt, vielleicht nimmt der Unsinn dann das Traurige etwas weg, weil wir verwirrt und damit offen zurückbleiben.

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Liebe Menschen, ich überlege die Suche nach dem besten Text aus dem Blog in meinen Kopf zurück zu verlegen. Eigentlich ist das hier ein Format in dem ich gehofft hatte, dass auch andere ihre liebsten Stücke teilen und wir so hier ins Gespräch über Literatur und Text kommen. Ich kann mir vorstellen, dass so ein Gespräch an einem veralteten Ort wie einem Blog zu führen vielleicht nicht passend ist oder es andere Hürden gibt, aber ich merke ein bisschen, wie ich die Freude daran verliere diese Texte zu platzieren. Und auch, weil selbst wenn ich ein paar Testballons loslasse (Wrestling und Muppets) die Reaktion darauf recht gering ausfällt. Also:
Wenn ihr mögt, werft mir gerne ein paar eurer liebsten Texte (zur Zeit) in die Kommentare und wir gucken mal wie diese Reise hier weitergeht?

Kommentare

  1. Mella3.2.24

    Okay, krass. 2/4 kannte und mochte ich tatsächlich schon, während ich den Rest beider Bands wirklich links liegen lasse. Der Mond und auch Luftbahn waren mir komplett unbekannt bis grade. Spannend und unerwartet. Guter Reminder, dass es eben komplex ist, was Menschen machen und mensch mit "gefällt mir" und "gefällt mir nicht" als grundsätzliche Kategorien nicht gut beraten ist und sich selbst Momente vorenthält, die das Muater aufbrechen können. Ich hatte mit beiden Songs ne gute Zeit, grade. AUCH wenn das Video zu Luftbahn WIRKLICH herausfordernd ist. 😆 UFF... Da ist ja wirklich einfach ALLES los! 🤣

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    1. Offenheit und Neugierde und sich immer wieder überprüfen sind gute Eigenschaften (für Künstler*innen) und ich glaube, das hält auch gut beweglich im Kopf.

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    2. Mella7.2.24

      Japp, unterschreib ich so. Das hat an ganz schön vielen Stellen wieder Bewegung möglich gemacht, wo vorher keine war. :) Kunst ist wohl mein persönliches WD40, um Dinge wieder zu lösen, die festgegnaddelt sind oder waren. ;)

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