Impostor

Eine Stunde vor dem Bewerbungsgespräch bin ich schon da, gehe noch in ein Cafe in der Gegend, weil es doch schon reichlich zu früh ist. Ich bin früher zum Bahnhof gefahren, als ursprünglich geplant. Zuhause hätte ich eh nichts mehr sinnvolles tun können und so konnte ich auf Eventualitäten reagieren. So läuft es öfter. Meine eine Mitbewohnerin scherzt, dass sie gar nicht zu ihren Zügen rennen darf, wenn sie mit mir auf Reisen geht, weil ich zu früh aus dem Haus gehe, die frühere Bahn nehme, zu früh da bin.

Ich bin pünktlich, weil ich super unpünktlich bin.

Der Hauptgrund warum ich ausschließlch Turnschuhe trage ist, dass ich gut rennen können muss. Falls ich den Bus fast verpasse, falls ich etwas hinterherrennen muss. Ich bin super unpünktlich und ein Handy zu haben das immer erlaubt mit zu teilen, dass ich mich verspäte, macht es alles schlimmer. Wenn ich mich nicht konzentriere oder es locker angehe, bin ich nie rechtzeitig da. Also entscheide ich mich dafür, dass ich mich viel früher auf den Weg mache, mich immer für die frühere Möglichkeit entscheide, um nicht einen Nachteil durch meine Angewohnheiten und Eigenarten zu bekommen.

Weil ich so oft dann zu früh da bin, musste ich warten lernen. Klar kommen damit, dass ich außer an einem Ort zu sein jetzt erstmal nichts zu tun habe. Weil mir das leicht fällt, scheinbar, halten mich sehr viele Menschen für geduldig.

Ich bin geduldig, weil ich super ungeduldig bin.

Habe ich etwas verstanden, will ich es sofort umsetzen können. Habe ich etwas gesehen und ich weiß wie es geht, nervt mich es üben zu müssen, um es auch zu beherrschen. Ich weiß aber, dass es nicht anders geht. Also übe ich mich in Geduld. Versuche Leerlauf besser auszuhalten, lerne das viel Kreativität und Entscheidungen aus der Langeweile kommen. Ich schließe Frieden damit nicht immer effektiv zu sein. Wenn ich in einem Videospiel mit Tastendruck Text wegdrücken kann, drücke ich die Taste oft drei Mal wo ein Mal gereicht hätte. Aber ich übe das nicht zu tun, bremse mich aus und erinnere mich daran, dass es mit Hektik oft nicht schneller, sondern vorallem unsauberer wird. Also, Geduld, auch wenn ich eigentlich nicht so geduldig bin.

In den Momenten wo ich versuche anders zu werden, als ich aktuell bin, ist Teil des Prozesses eben auch erstmal so zu tun, als könnte mensch so sein. Ich muss mich verhalten wie jemand der geduldig ist, damit ich Geduld lernen kann. Ich muss die Handlungen machen von jemandem der Pünktlich zu Terminen kommt, um pünktlich zu Terminen zu kommen, auch wenn ich eigentlich nicht so pünktlich bin. Wir quälen uns mit Impostor-Syndrom, weil wir Angst haben auf eine Art zu wirken, wie wir nicht sind. Aber wir wollen wachsen und uns entwickeln und dafür müssen wir daran glauben, dass es eine Version von uns gibt, die wir noch nicht sind und je öfter wir es schaffen so zu sein, desto mehr gehen wir von der "Vortäuschung" hin zu einer neuen Realität. Denn in Wirklichkeit sind wir alle Impostor. Wir wollen nämlich daran glauben, dass wir Sachen schaffen können, auch wenn wir keine gesicherte Garantie haben. Die wir nie haben können. Es kann immer etwas passieren. Aber wir glauben daran, dass es nicht so ist und probieren es dann trotzdem. Ein bewusster Umgang damit kann aus dem Impostor statt einer fiesen Täuschung eine Vision oder einen Wunsch machen. Von mir aus Transfer-Phenomem statt Impostor-Syndrom, weil wir gerade auf dem Weg von einer Version zur nächsten sind.

Ich bin pünktlich, weil ich pünktlich werden möchte. Ich bin geduldig, weil ich geduldig werden möchte. Ich bin fleißig, weil ich fleißig werden möchte. Ich versuche mehr zu sein als ich in Wirklichkeit bin, weil ich gerne aus dem wachsen möchte, was ich jetzt gerade bin.

Kommentare

  1. Anonym26.4.24

    Geduld ist der Endgegner! Mit anderen geht das einfacher als wenn es mich betrifft. Ich sehe allerdings durchaus Bereiche, bei denen ich es ähnlich halte wie du und entscheide mich, wie ich sein will, auch wenn ich da noch nicht ganz bin. Kontrolle abgeben, Vertrauen und langsamer werden beispielsweise.

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