Der Scalabrine Effekt

Jule Weber, die im selben Stück als meine Kollegin auf der Bühne steht, aber früher im Stück dran ist, warnt mich regelrecht: "Ich wusste nicht, dass mensch einen so trockenen Mund bekommen kann.", sagt sie, als sie ihren ersten Text in der Oper gerade fertig vorgetragen hat. Ich habe noch etwas Zeit und mache mir wenig, aber nicht gar keine Sorgen. Ich trinke einen Schluck, gehe auf meine Position, habe zwar einen trockenen Mund, aber das ist dann nicht das Problem. Denn obwohl ich das Textblatt vor mir habe, macht die Aufregung des Premierenabends, dass ich eine Zeile anfange falsch zu lesen. Wie eine magische Hand greift mein Gehirn mir ins Lenkrad und rettet den Satz inhaltlich und grammatikalisch so, dass es später niemandem aufgefallen sein wird. Als der Abend vorbei ist und einsickert in meiner Wahrnehmung, formuliere ich für mich, dass es so war als hätte sich meine ganze Bühnenerfahrung kurz auf diesen Moment gebündelt um die Situation zu retten.

Brian Scalabrine war Spieler in der NBA. Er hat Basketball zur selben Zeit gespielt wie Ausnahmetalente wie Kobe Bryant oder auch LeBron James. Und wenn mensch auf die Zahlen schaut, war er einer der schlechtesten Basketballspieler der Liga in dieser Zeit. Oft hat er auf der Bank und in der Reserve gesessen, hat auch nur da eine Meisterschaft gewonnen. Als er seine aktive Karriere beendet trainiert noch weiter, für sich, aus Liebe zum Spiel, aus Gewohnheit, er wird es nur selbst wissen. Mit dem Ruf des schlechtesten Spielers ausgestattet, fordern ihn immer wieder Leute heraus. Und dann geht irgendwann ein Video viral, welches er selbst hochlädt, auch, weil er es ein bisschen Leid ist. Darin wurde er ebenfalls zu einem 1 gegen 1 Spiel herausgefordert von einem sehr überzeugten Spieler. Brian Scalabrine gewinnt in kurzer Zeit mit einem stabilen 11-0. Keinen einzigen Punkt hat der andere gemacht. Und das war ihm auch vorher klar.

Basierend auf diesem Video bekommt Scalabrine noch viele Herausforderungen, die er - so weit dokumentiert - alle gewinnt. Inzwischen ist ein Effekt - vielleicht scherzhaft - nach ihm benannt. Denn da liegt eben eine massive Fehleinschätzung auf Seiten der Amateure: Der "schlechteste" Profi wird sehr sicher immer noch besser sein als du. Er ist nämlich kein wirklich schlechter Spieler gewesen, sondern ein schlechter Spieler gemessen an den Statistiken die andere abgeliefert haben. Und da ist Sport besonders undankbar, denn es gibt genaue und präzise Statistiken für alles und je höher die Spielklasse ist, desto mehr Daten werden auch erfasst. Im Leistungssport wird alles optimiert. Und das eben auch bei den "schlechtesten".

Scalabrine selbst beschreibt, dass es eine Art "zweiten Modus" gibt, den Profis abrufen können und den Anfänger*innen, junge Talente oder Hobby-Leute einfach nicht haben. Er selbst nennt es den "Dark Place", weil das seine Art ist wie er sich motiviert. Meine bereitserwähnte Bühnenkollegin Jule Weber spricht von der "seriösen Profi-Jule" und sagt dann, dass diese auch auftreten kann, wenn die private Jule eigentlich im Bett liegen bleiben würde. Und es funktioniert. Und auch ich sehe das bei mir. Bei mir ist es auch eine Art zweiter Charakter, nicht umsonst trete ich unter einem Künstlernamen auf. Wenn ich dann als Jay auf die Bühne gehe, dann ist das zwar ein Teil von mir, aber eben eine ganz anderer Modus. Und wo ich eigentlich gerne gerade alleine im Wald sitzen würde und andere Sorgen habe, ist Jay voll in Kontakt mit dem Publikum und ganz anders, als ich es gerade sein könnte. Die Wrestler*innen deren Interviews ich höre sagen oft, dass sie Charaktere anbieten wollen, die größer als das echte Leben sind. Und so ist vielleicht eben für den Moment der Modus eines Profis.

Spannend für mich dabei, dass viele Menschen diesen Modus nicht als eine harte faktische Sache beschreiben. Die Erklärungen und Begriffe zeigen, dass es etwas unterbewusstes ist, dass es eher einer Intuition gleicht. Und die kann mensch mit Erfahrung und Übung ausbilden, aber eben nicht synthetisch herstellen. Sicher hat es auch etwas mit den vier Stufen der Kompetenz zu tun. Denn auch da ist die höchste Stufe die "unbewusste Kompetenz" und die niedrigste, da wo manchmal die Amateur*innen wohnen, aber auch die Selbstüberschätzung, ist eben die "unbewusste Inkompetenz". Etwas was einige der Herausforderer von Brian Scalabrine danach sicher eher bewusst hatten.

Scalabrine beschreibt übrigens auch, dass gerade die Leute die nicht an der Spitze stehen oft sogar noch härter arbeiten müssen, um ihre Positionen zu halten. Denn während er der schlechteste war, war er eben immer noch einer der besten 500 Spieler der Welt, was die Eintrittskarte in die NBA ist. Aber er musste auch härter arbeiten, weil er mehr beweisen musste. Denn Stars wie Kobe Bryant, die konnten sich kleinere Fehler erlauben und waren dann weiter in der Startaufstellung, weil sie sich bewiesen hatten. Wenn Brian Scalabrine ein paar Fehler macht, dann ist er im harmlostesten Fall nicht mehr auf dem Platz, aber im schlimmsten Fall nicht mehr in der Liga. Und das konnte er mindestens 15 Jahre verhindern.

Wenn wir also denken, dass wir gerade nicht mit den Besten unserer Kunstform mithalten können, dann müssen wir uns immer noch fragen, ob wir aber wenigstens mitspielen. Und wir müssen unseren Modus pflegen, unseren "Dark Place", unser Profi-Ich, unsere "Larger than life"-Version, um eine Linie zu den Amateuren zu ziehen. Wir dürfen dann den Anspruch haben, eben keine Amateure zu sein, sondern Profis. Und das kommt über Übung, Fleiß, Lernen und Weitermachen. Und wenn wir dann eben - was auch immer da die Kriterien sind - zu den schlechtesten der besten Klasse gehören, dann ist das eben immer noch Teil der Spitzenauswahl.

Mehr zum Scalabrine-Effekt in diesem Artikel der New York Times.

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