Der Zeitreisende

Es fällt mir schwer die Zeit zu messen, die ich vor dem Regal gestanden habe und mich nicht entscheiden konnte. Da ich die Wiederholungen des immer gleichen Liedes nicht zähle, könnte ich nicht mal die Spielzeit als Grundlage einer Berechnung nehmen. Es könnte ein Wert zwischen 13 und 100 sein, weil ich zwischen diesen beiden gefühlten Altern hin und her drifte. Der Lohn für diesen anstrengenden Zustand sind Tränen, die mir tonlos das Gesicht herunterlaufen. Ich fühle Traurigkeit. Das schreibe ich so klar und einfach auf, weil ich es so deutlich und echt gefühlt habe, als ich dort gestanden habe. Beim Verdichten stirbt die Realität zu erst und in den Räumen die entstehen können sich dann Erinnerungen der Emofänger*innen einnisten. Also bringt eure Traurigkeit gerne mit. 

Was sich wie das Stemmen schwerer Gewichte anfühlt, ist die Entscheidung, was ich essen möchte. Leider sitzt all meine Willenskraft aber noch bei meiner Therapeutin auf dem Stuhl. Da habe ich sie zuletzt gesehen, als ich mit jedem Satz mich entscheiden musste ob und wie ich von meinem Schmerz erzähle. Das sagt dir vorher niemand: Therapie ist Sport. Du wirst deine Ernährung umstellen müssen und deine Erholungsphasen gut einplanen. Du wirst ständig gegen deine schlechten Gedanken in Wettkämpfen antreten müssen. 

Das mit der Ernährung gelingt mir nicht gut, als ich mit einer Packung Mettwürstchen und Waffeln aufs Band der Kasse lege. Danke Henry Ford. Als mir wieder meine Playlist für emotionalen Aderlass fühlbar ins Herz arbeitet, Tränen schon mal Anlauf nehmen.
Nochmal Würstchen und Waffeln. 
Es sind andere Sorten, aber meine minderen Fertigkeiten in Wahrscheinlichkeitsrechnung applaudieren ob dieser Situation. Meine Tränen ziehen sich zurück, weil die Realität sich kurz off anfühlt. Es ist die unwichtigste Situation überhaupt in meinem Leben, aber jemand genau hinter mir in der Schlange kauft genau den selben Mist für sich. Ich kann nicht anders als diesen Menschen anzusprechen. 

"Entschuldigen Sie, ich muss das ansprechen"
"Dass wir beide Menschen mit sehr gutem Geschmack sind, ja auf jeden fall!" 

Werde ich unterbrochen und der Mitarbeiter der in meinem Kopf die Witze schreibt ist sich sicher: Das könnte auch ein Mini-Scherz von uns sein. Ein harmloser netter Dad Joke. Niemand wurde verletzt. Bis auf unsere Ernährung. 

Bezahlen, gehen, Kopfhörer wieder auf. Der Mann sah mir nicht ähnlich, aber wenn ich seine Merkmale aufzähle, klingt es doch nach einer möglichen Zukunft von mir. Es würde mir ähnlich sehen, denke ich. 

Wann immer ich mit Menschen über eine Zeitreise und zu einem Treffen mit dem eigenen Ich rede, fragen wir uns, was wir sagen würden. Oft ist es "Es wird leichter", "Glaub an dich" oder andere Sätze, die unserem Ich die Befreiung durch eine Hoffnung schenken sollen. Als ich Freund*innen von dem Moment erzähle, sind sie sich einig: Das hättest auch du sein können. 

Wenn ich dann in der Zukunft eine Zeitreise machen werde, dann werde ich sie nutzen, um in einem schweren Moment, der vielleicht eine massive Kurve nach unten hätte sein können, mich selbst genug zu stören, dass ich nicht von meinem. Schmerz abgelenkt bin, aber zumindest schaffe anzuhalten und den Weg zu reflektieren. Denn die Traurigkeit war nicht das Problem. Das intensive Gefühl, war nicht das Problem. Wenn Scham und Angst die Hoffnung überholen, das ist ein Problem. Und Hoffnung, die schlägt manchmal als überraschender Moment durch den Teer und hinterlässt Unkraut. Einen Moment, den du nicht nutzen kannst, aber dir Erkenntnis das deine Natur doch immer durch den Asphalt brechen kann. 

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