Sich überleben: langsamer als du denkst

Vor einiger Zeit ging es mir nicht so gut, aber ich hatte etwas Energie übrig. Also habe ich im Sinne meiner Selbstwirksamkeit kleine Erkenntnisse und Merksätze hier im Blog aufgeschrieben, die mir geholfen haben aus schweren Zeiten und Denkmustern raus zu kommen. Daraus ist dann eine unregelmäßige Reihe im Blog mit sanft übertriebendem Namen geworden: "sich überleben" und wenn ihr auf die Worte klickt, kommt ihr zu allen Beiträgen.

Der wichtige Disclaimer wie immer: Wenn ihr großen Leidensdruck empfindet, werden meine kleinen Gedanken hier das nicht beheben können. Je nachdem was da in euch vorgeht, könntet ihr eher Unterstützung von Therapeut*innen brauchen. Scheut euch nicht, Therapie kann ein guter wichtiger Ort sein.

Dein Gehirn ist langsamer als du denkst
Vermutlich, würde ich diese Inhalte hier für Tiktok oder als Reels auf Instagram machen, würde ich zwischen jedem einzelnen Wort klatschen. Aber auch die Betonung so aussprechen, dass die Verbindung zwischen Gehirn und denken nochmal besonders heraus gestellt wird. Denn mensch könnte ja denken -hrhr- dass das Gehirn genauso schnell ist, wie es ist, wie uns die Gedanken aufkommen, aber ich spreche hier von einem anderen Tempo.

Stellen wir uns das Gehirn und das Nervensystem mal als die Infrastruktur unseres Denkens vor. Also wie ein Straßen- und Verbindungsnetz. Verschiedene Zentren die verschiedene Aufgaben in unserem Gehirn haben, sind miteinander verbunden. Wie sie das sind, hängt von all unserem Handeln und Erleben ab. So entstehen im Laufe des Lebens Verbindungen im Gehirn. Diese Verbindungen erlauben eben dass wir auf bestimmte Arten denken. Als Kinder fangen beim Spielen und Lernen diese Verbindungen sich an zu bilden, während das Gehirn versucht effizient zu bleiben. So sagt Piagets Forschung, dass es den Teil vom Gehirn gibt der Impulse aufnimmt und neues lernen will und damit neue Bahnen bilden - anstrengend - und eben den Teil, der die bestehenden Strukturen erhalten will und alles bisher gelernte erhalten, egal ob es richtig oder falsch ist. Behalten und nichts verändern ist natürlich recht entspannend. In bestimmten Lebensphasen, vorallem der Pubertät, wird dann alles im Hirn noch mal umgebaut. Auch sehr stressig und anstrengend. Wenn wir bei dem Bild einer echten Infrastruktur bleiben, dann ist gerade die Lage in Deutschland ein treffendes Beispiel für ein Gehirn: Wenn es eine gute Autobahn gibt, dann herrscht da auch kein Tempolimit. Bis aber bestimmte Verbindungen gebaut, verändert oder repariert sind, vergeht eine Menge Zeit.

Und dieses Bild mag ich auf das eigene Gehirn übertragen. Als jüngerer Mensch habe ich oft gedacht, dass ich sobald ich etwas gehört, gelesen, erfahren hatte, ich es auch begriffen hatte. Und wenn auch stimmt, dass bei jüngeren Menschen das Entwickeln von Verbindungen eher schneller geht als bei alten Menschen, passiert eben nichts davon "sofort". Aber ich war mir immer sicher, dass ich je schlau sein muss in dieser Welt um Anerkennung zu bekommen, so dass ich lieber gesagt hatte, dass ich alles verstanden habe, anstatt es für mich selbst zu überprüfen. Besonders wenn es um neue Handlungen oder um Kritik an mir ging, war ich mir sicher, ich hätte es sofort begriffen und könnte es sofort umsetzen. Und das ist Quatsch.

Viele neue Dinge die wir lernen, müssen wir mit verschiedenen Techniken erst anlegen, damit in unserem Kopf die passende Verbindung entsteht. Dafür gibt es sehr viele Wege, die Übung, Wiederholung, Reflektion, Besprechen und in eigenen Worten formulieren und noch viele weitere Techniken beinhaltet. Aber solange eben diese Verbindungen noch nicht angelegt sind und sicher "befahrbar", müssen wir akzeptieren, dass wir in der neuen Sache sehr langsam sind. Und das hilft auch kein "fake it 'til you make it." Ich würde frei improvisiert daneben legen: "Learn it 'til you earn it". Und das braucht auch Neugierde und Offenheit und die Bereitschaft die Anstrengung auf sich zu nehmen, das eigene Gehirn ständig umzubauen.

Daniel Kahnemann - dessen Buch ich nicht fertig gelesen habe - beschreibt in seinem Buch "langsames Denken, schnelles Denken" auch das Verhältnis der zwei Denkströmungen die wir da in unserem System haben. Ein Schnelles Denken, dass gut darin ist Entscheidungen zu treffen, aber schlecht darin Konsequenzen und Werte zu sehen. Daneben ein langsames Denken, dass viel mehr unsere Haltung und Moral verwendet, aber unter Zeitdruck nicht leisten kann. In meinem Bild also der Bautrupp und die schnellen Gedanken als die Fahrzeuge die blitzschnell unterwegs sind.

Mit dieser Klarheit im Kopf, formuliere ich gerne gegen über anderen Menschen "Ich bin langsam", wenn es um mein Denken oder gewünschte Verhaltensänderungen geht. Menschne die mich bitten etwas anders zu sagen oder zu tun, müssen leider immer etwas Geduld mit mir haben. Weil ich eben danach strebe etwas dann auch nachhaltig zu übernehmen und in mir anzulegen und nicht nur für einen kurzen Moment vorzutäuschen. Viele Menschen widersprechen mir zwar bei dem Punkt, dass ich langsam wäre, eben weil sie mich im Alltag sehen wie ich handle, aber das ist ja meist mein schnelles Denken, welches sich auf dem Rücken meines langsamen Denken bewegt. Und deshalb mache ich mir immer wieder bewusst, dass beides wahr sein kann:
Wenn ich ein System in mir etabliert habe, dann kann ich es vermutlich bei hohem Tempo verwenden. Und das hilft mir, realistischer mit mir selbst umzugehen.

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