Was sie dir in ihrem inspirierenden Content nicht erzählen

Das Internet ist einfach ein richtig fantastischer Ort. Ich muss das schreiben, weil ich das hier gerade ins Internet tippe. Ich muss das auch schreiben, weil ich mich selbst noch vor und für lange Zeit als "Digital Native" bezeichnet hätte. Dieser veraltete Begriff, der mal bedeutet hat, dass mensch sich im Internet zuhause fühlt. Ich weiß gar nicht, ob das jetzt noch verwendet wird. Wenn ich mir jetzt auch als "Digital Native" vorstelle, dann schaue ich definitiv aus dem Fenster und brülle "runter von meinem Rasen!" während die Kids Tiktok-Tänze aufführen. Aber egal auf welcher Plattform und in welcher Generation Internetbewohner*in, das Internet ist einfach voll mit richtig spannenden und guten Inhalten.

Besonders liebe ich und bin anffälig für inspirierenden und Bildungsinhalt. Ja, erzähle mir von dieser coolen Methode um den Tag zu strukturieren, zeig mir ein Reel als Auschnitt eines Videos von der Aufzeichnung deines Podcasts, wo du oder einer deiner Gäste etwas kluges oder motivierendes gesagt hat- Zeigt mir auch das Video, wie jemand daraus mit Autotune und Techno ein Lied gemacht hat. Aber zeig mir vorallem all diese schlauen Menschen, die schlaues gelesen, gelernt, erfahren haben und es jetzt mit mir teilen wollen. Das mag ich, das finde ich super und wenn ich direkt mit dem Algorithmus mal sprechen dürfte, würde ich ihm sagen, dass ich nur noch das, Wrestling und niedliche Tiere sehen mag. Ganz so läuft es aber leider nicht.

Zum Beispiel, weil der Algorithmus oft denen hilft, die am wenigsten Hilfe brauchen. Weil wenn ein Account irgendwo schon groß und "erfolgreich" ist, dann fallen wir oft genug auf die Überlegung rein, dass er vielleicht wichtiger oder besser sein muss als andere. Weil 250k folgende können ja nicht alle zusammen gleichzeitig reinfallen, oder? Oder? Hier das Anakin-Padme-Meme einsetzen. Keine Sorge, ich werde jetzt auch gar nicht groß gegen die "großen" im Netz wettern. Mir geht es um einen anderen wichtigen Aspekt der Betrachtung von anderen und uns selbst. Denn:

Je erfolgreicher du in deiner Sache wirst, gerade als Person die Inspiration vermarktet oder teilen will, desto weiter entfernst du dich von der Lebensrealität derer, die du ansprechen willst. Wer Erfolg im Netz hat und es darauf anlegt, der kann damit auch Geld verdienen, Dinge fürs Internet zu produzieren. Und mit dem schleichenden Wechsel der eigenen Lebensrealität, mit dem zunehmenden annähern an - vielleicht unseren Traum - ein Leben in dem wir arbeiten was wir wollen und unser eigener Chef sind, vergessen wir die Realität derer, die diese Chance nicht haben. Teilweise vergessen wir sie nicht nur, sondern kennen sie auch nicht. So sehe ich einige Influencer*innen, welche schon von Anfang an Support aus ihrem Umfeld hatten, Fallschirme die ihnen erlauben auch mal zu scheitern. Sag das mal dem Menschen, die in einem weniger sicheren Umfeld aufwachsen und armutsbedroht sind.

Ja, für dich, liebe Internetpersönlichkeit war es möglich einen Podcast zu starten, weil es möglich war die Technik zu kaufen und ein paar Stunden in der Woche weniger zu arbeiten, ohne das du und deine Familie wirtschaftlich bedroht waren. Ja, du konntest dir privat leisten in Therapie zu gehen oder einen Coach zu engagieren, zu dieser Fortbildung zu gehen. Aber manche deiner Vorschläge gehen eben an den Menschen dabei, welche du erreichst und erreichen willst. Denn das alleinerziehende Elternteil wird eben nicht noch in der Freizeit sich etwas aufbauen können - auch wenn sie wollen - weil da ist immer "Mental Load", die Belastung der Seele durch die Summe aller Verantwortungen.

Und trotzdem ist es wichtig, dass ihr weiter macht und eure Ideen anbietet, besonders auf diesen Plattformen, die im ersten Moment mit keinen realen Kosten für eure Zielgruppe verbunden sind. Aber ich mag - bei mir selbst und anderen Ersteller*innen von Inhalten - wünschen, dass eine Sensibilität dafür entsteht, welche Schwierigkeiten und Hindernisse es geben kann. Und dabei kann vielleicht nicht jeder Lebensumstand bedacht werden, weil das Leben in einer diversen Gesellschaft eben auch bedeutet, dass es mehr verschiedene Umstände gibt, als wir Vorstellungskraft haben. Aber vielleicht ist es möglich, manche unserer Ideen und Methoden so zu öffnen, dass sie für viele Menschen umsetztbar sind. Wenn dir eine bestimmte Methode geholfen hat, vielleicht hast du ja sogar inzwischen die Ressourcen um deine Fertigkeit nicht nur in deinen Content, sondern auch aktiv in deine Community zurück zu federn. Mit Zeit und Geduld und Energie.

Denn was wir und die beim inspirierenden Content manchmal vergessen aufzuzeigen, ist der Weg den wir gehen durften und konnten. Denn natürlich ist es zum Beispiel möglich zu sehen, dass ich und andere jeden Tag etwas hochladen. Inhalte in Blogs, Postings auf Social Media Plattformen, Stories, Videos und und und. Aber dass ich dafür zum einen Jahre lang arbeiten musste und überhaupt mit mir lernen musste meine kreative künstlerische Persönlichkeit zu befreien und zu entwickeln, dass ich das ganze auch gerade auf dem Rücken von anderer Arbeit tue, die ich in meinem Leben schon gemacht habe. Dass ich diese Zeit auch habe, weil mir meine Wahlfamilie und direktes Umfeld andere Aufgaben abnehmen und mich unterstützen, das sehen die Leute dabei nicht. Das wird nicht in gleicherweise sichtbar. Und das sehen wir zum Teil auch selbst nicht mehr.

Jeden Tag schreibe ich so genannte "Morning Pages". Ich merke das kaum mehr, wie besonders es ist, weil ich es jeden Tag tue und überall mithinnehme, wo ich bin. Es ist ein Standard für mich geworden, den ich gerne bewerbe auch zu erlernen. Ich musste dafür "nur" ein Zwölf Wochen Programm in einem englischsprachigen Buch machen, welches mir die Methode und alle Hintergründe beigebracht hat und wie kann ich am Ende dieses Satzes denn nicht merken, wieviel Privileg ich hatte, das umsetzen zu können? Wenn ich aber diese Privilegien als Normalität verkaufe, stellen sich andere Menschen in Frage an meinem Inhalt, weil sie nicht neben ihrem Alltag (der anders aussieht als meiner) auch noch eben ein Buch lesen können in einer Fremdsprache und einen 30minütigen Zeitblock morgens eben hinzufügen können. Auf welchen Möglichkeiten ich das aufbauen konnte, sollte ich mir bewusst machen, bevor ich allen rate es genau wie ich zu tun.

Jeder Inhalt im Internet ist ein Screenshot. Ein Schatten der durch Platons Höhle huscht. Nichts davon ist die ganze Geschichte. Die müssen wir entweder versuchen zu erzählen oder danach fragen, damit wir auch wirklich sicher wissen und einschätzen können, wie andere ihren Weg gehen konnten, damit wir nicht nur inspiriert sein können, sondern Teile dieses Weges auch wieder für uns nutzbar machen können. Ich liebe das Internet, weil es mir erlaubt zu Antworten von denen ich nicht wusste, dass ich sie brauche, Fragen zu entwickeln von denen ich nicht geglaubt hätte, dass ich sie mal haben werde.


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